Episode 36

Von Tobib

Was bisher geschah:

15 Jahre sind seit dem Verschwinden von Gustav vergangen. Die Behörden hatten ihn längst für tot erklärt und selbst sein Sohn Martin glaubte nicht mehr an ein Happy End. Einzig seine Frau Mathilda gab die Hoffnung auf ein Wiedersehen nie auf. Ausgerechnet während des gemeinsamen Familienurlaubs in Italien und der anschließenden Kreuzfahrt durchs Mittelmeer, fanden sie das verlorene Familienmitglied wieder. Gustav litt an retrograder Amnesie und erst die Begegnung mit seiner Familie führte zur totalen Erinnerung. Zeit das Wiedersehen zu feiern und nach Hause zurückzukehren.

»Oh Gott, mir fehlen 15 Jahre meines Lebens«

Schönbecks hatten es sich in einer Suite des Rocca Nettuno in Sliema gemütlich gemacht. Nachdem Gustav sich wieder seiner selbst entsinnen konnte, hatte Martin umgehend ein Telefonat mit seinem Reisebüro geführt. Die Kreuzfahrt auf der Costa Pacifica wollten sie sofort abbrechen und benötigten jetzt eine Unterkunft auf Malta. Das Phoenicia Hotel war bereits hoffnungslos überfüllt – doch im nur wenige Kilometer entfernten Städtchen Sliema wurde das Reisebüro fündig und buchte der Familie drei Suiten im umwerfenden Rocca Nettuno. Während Mathilda, Gustav und die Kinder mit dem Taxi bereits vorfuhren, holten Martin und Sabine das Gepäck vom Kreuzfahrtschiff. Alles andere hätte jetzt auch keinen Sinn gemacht, schließlich war der längst für tot erklärte Ehegatte/Vater/Schwiegervater/Großvater wieder aufgetaucht und versetzte alle in einen Zustand taumelnder Freude.

Sie saßen alle in der Suite von Mathilda und Gustav. Die Erwachsenen am Tisch, Dorothea und Karl auf der Couch. Draußen war es bereits dunkel.
»Oh Gott, mir fehlen 15 Jahre meines Lebens mit meiner Frau, meinem Sohn und meinen Enkelkindern«, konstatierte Gustav und sein Gesicht trug wieder diese traurigen Züge wie noch vorhin am Nachmittag bei seiner Rückkehr.
»Ach Gustav, Du lebst und das ist alles was zählt«, beruhigte ihn Mathilda und strich mit ihrer rechten Hand über seine linke Wange.
»Kannst Du dich daran erinnern, was damals auf dem Schiff passierte und wie Du hier hergekommen bist?«, wollte Martin wissen.
»Die Fähre war bereits einige Stunden unterwegs. Cliff, Frank, Jochen und ich saßen an einem Tisch des Bordrestaurants. Wir wollten gerade auf unser famoses Sardinien-Konzert anstoßen und mussten noch auf Horst warten. Er und seine Pionierblase befanden gerade mal wieder auf der Toilette. Dann gab es eine mächtige Erschütterung und nur kurze Momente später stürmte uns Horst entgegen und brüllte, dass das Schiff in Flammen stehen würde. Panik brach aus. Tische wurden umgeschmissen, Menschen fielen zu Boden und andere stürzten über sie und dabei konnte man noch nicht einmal Rauch riechen. Cliff und Frank ließen sich von diesem Tohuwabohu anstecken und rannten Horst hinterher – Jochen hielt mich am Arm zurück. Gemeinsam gingen wir zum vorderen Ausgang. Von überall hörten wir Schreie, und als wir aufs Oberdeck traten, sahen wir auch warum: Der gesamte hintere Teil der Fähre stand in hellen Flammen. Ich hatte unglaubliche Angst. Wir schauten uns nach Rettungsbooten um. Etliche waren bereits dem Feuer zum Opfer gefallen und die wenigen, die noch da waren, hatten bei Weitem nicht ausgereicht. Menschen sprangen in die dunklen Fluten des Mittelmeeres und wurden von ihnen verschluckt. Jochen fand noch einen Rettungsring und erklärte, dass wir noch so lange wie möglich auf dem Kahn verharren sollten. Wenn der Rauch und die Flammen dann näher kämen, würden wir ebenso ins Wasser springen und uns an dem Rettungsring festklammern und auf Hilfe warten. Unglaublich lange15 Minuten später war es dann soweit. Ich hatte immer wieder nach den Anderen gerufen, doch Cliff, Frank und Horst waren nirgends auszumachen. Die Flammen hatten den mittleren Teil längst erreicht und Rettungsschiffe waren noch immer nicht in Sicht. Wir kletterten über die Reling, schauten uns an und bestätigten mit einem Kopfnicken. Dann sprangen wir«, berichtete Gustav, dessen Erinnerungen zum ersten Mal an diese grauenvolle Nacht vor 15 Jahren zurückkehrten.
»Im Wasser konnte Dich Jochen nirgends finden«, sagte Mathilda.
»Jochen hat es also geschafft! Das ist schön. Was ist mit dem Rest von »Boxer«?«
»Tut mir leid Gustav, sie konnte nur noch tot geborgen werden.«
»Eine Schande. Die armen Kerle.«

»Willkommen zurück im Leben«

»Wie ging es mit Dir weiter, Vater?«, drängelte Martin, der endlich wissen wollte, welches Leben sein Erzeuger die nächsten 15 Jahre führte – ohne seine Familie.
»Zu mir kam ich in einem hellen Zimmer mit Blümchentapete. Weder wusste ich, wer ich war, was mit mir geschehen war, noch wo ich hingehörte. Ein alter maltesischer Fischer von Gozo hatte mich aus dem Wasser geholt. Ich lag wohl quer über einer Schiffsplanke und war heftig angeschlagen. In seiner einfachen Behausung in Strandnähe päppelte mich seine liebenswürdige Frau wieder auf. Immerhin konnte ich Englisch und so verständigten wir uns. Hätte ich gewusst, wonach ich suchen sollte, ich hätte es getan, doch da war nichts, absolut gar nichts. Keine Ahnung, ob Ihr Euch das vorstellen könnt, aber ich war ein Mann ohne Vergangenheit. Monate müssen vergangen sein, bevor ich nach Malta übersetzte und mein Glück in Valetta versuchte. Eines Abends ging ich durch die Straßen der Stadt und blieb vor einer Bar stehen. Die Musik, die aus ihr drang, wärmte meinen verwirrten Geist. Die Gedanken wurden langsamer und ein ungemeines Glücksgefühl durchflutete mich. Ich ging hinein und setzte mich zu den Musikern. Man schaute mich gar nicht lange fragend an, sondern überreichte mir eine Trompete und ich jammte einfach mit. Es war wie ein Stück Heimat gefunden zu haben. Den Jungs gefiel mein Spiel und so blieb ich dort. Ich spielte beinahe jeden Abend und bekam ein bisschen Geld dafür und irgendwann schenkte mir ein alter Kerl seine Martin Committee. Er meinte, er würde dem Instrument nicht gerecht werden und sie in meiner Obhut in besseren Händen wissen. Diese Trompete zu besitzen, war wie ein Stück Vergangenheit zurückzuerlangen, ohne das ich es hätte erklären können. Uns so spielte ich hier fortan auf der Insel. Tagsüber vor dem Hotel Phonicia und am Abend im BJ’s. Dann seid ihr erschien und habt mich aus meiner Dunkelheit befreit. All die verlorenen Jahre…«, schloss er seinen Bericht.
»Und all die wunderbaren Jahre, die wir jetzt noch zusammen genießen dürfen! Willkommen zurück im Leben, mein lieber Mann«, ergänzte Mathilda und gab der traurigen Geschichte eine optimistische Wendung.

Teenager-Sparschwein-schröpfender- Industrie-Kaugummi-Pop

Zwei Tage später flog die gesamte Familie Schönbeck zurück nach Berlin. Ein aufregender Urlaub lag hinter ihnen und das schönste Mitbringsel war Gustav. Ein Glück, das Mathilda nach seinem Verschwinden die Wohnung beinahe unverändert gelassen hatte. Selbst von seinen Sachen hatte sie sich nicht getrennt. Gustav fand sein Heim beinahe genauso vor, wie er es vor 15 Jahren zurückließ. Er war jetzt beinahe 75 Jahre alt und bemüht all das Verpasste schnellstmöglich wieder aufzuholen, sofern dies denn möglich war. Immerhin kehrte er als Großvater zurück! In langen Gesprächen mit Mathilda sollte er all die ihm entgangenen Geschichten erfahren und sich Schritt für Schritt in sein altes Leben zurückfinden.

Karl redete in der nur wenige Tage später beginnenden Schule von nichts anderem als seinem Opa, den sie aus dem Urlaub mitgebracht hatten. Die Lehrer amüsierten sich, meinten sie doch, dass der Junge von einer neuen Bekanntschaft der Großmutter sprach. Erst, nachdem Gustav seinen Enkel eines Nachmittags von der Schule abholte und sich als Schönbeck vorstellte, schaute sich das Lehrpersonal verdutzt an und Gustav kam nicht umher, seine große Abenteuergeschichte zu erzählen. Die sollte er in nächster Zeit des Öfteren zum Besten geben und natürlich reicherte er sie immer mal wieder um einige fiktive Fakten an – wie das eben so ist, beim Geschichtenerzählen.

Dorothea freute sich natürlich auch über ihren neuen Großvater. Am meisten begeisterte sie sein Spiel auf der Trompete und für Martin und Sabine vollkommen überraschend, widmete sie sich fortan in jeder freien Minute dem Erlernen des Instruments. Gustav war ein ganz hervorragender Lehrer und schon recht bald konnte Martin aus ihrem Zimmer so etwas wie echte Musik vernehmen. Endlich, so freute er sich, schienen Miley Cyrus, Justin Biber und all diese anderen abscheulichen Ausgeburten des Teenager-Sparschwein-schröpfenden- Industrie-Kaugummi-Pop ohne Inhalt Geschichte.

Sabine und Martin genossen die neue ungeahnte Harmonie in der Familie. Einzig das Glück von Sabine war noch nicht vollständig. Sie erwartete die baldige Rückkunft von ihrer kleinen Schwester, die sie seit dem kurzen Telefonat am ersten Morgen auf dem Kreuzfahrtschiff, nicht mehr gesprochen hatte. Einerseits war sie froh, dass sich Jessica von Roland – den Sabine nie leiden konnte – getrennt hatte, aber was war davon zu halten, dass sie bereits mit einem neuen Typen durch Asien tourte? So kannte sie ihre Schwester gar nicht. Immerhin hatte sie eine SMS von Jessica erhalten. Sie schrieb, dass sie auf dem Weg nach Saigon wäre und sich auf ein baldiges Wiedersehen mit vielen aufregenden Geschichten freuen würde. Auf diese Rückkehr war Sabine wirklich sehr gespannt.

Fortsetzung folgt