Episode 34

Was bisher geschah:

Es gibt diese Geschichten, die wohl einfach zu fantastisch erscheinen, als das man sie wirklich glauben könnte. Mathilda und Martin ging es nicht anders, als sie während ihrer Mittelmeerkreuzfahrt Halt auf Malta machten. Direkt vor einem örtlichen Luxushotel saß da Gustav und spielte auf seiner Trompete. Das ist insofern erstaunlich, als dass Gustav bereits vor 13 Jahren offiziell für tot erklärt wurde. Ein Blick zurück.

Fährunglück und Mittelmeer

Es war der 16. August 1995. Der Tag, der das Leben von Mathilda für immer ändern sollte. Sie kam gerade aus dem Zoo-Palast, wo sie sich den recht bildgewaltigen aber belanglosen Film »Rob Roy« angeschaut hatte. Bevor sie ins Bett ging, schaltete sie noch einmal den Fernseher an um sich über das Wetter des nächsten Tages zu informieren. So verfolgte sie das ARD-Nachtmagazin auch nicht mit sonderlicher Aufmerksamkeit und blätterte nebenbei gelangweilt in der aktuellen Ausgabe der Brigitte. Doch als sie plötzlich die Wörter Fährunglück und Mittelmeer hörte, ließ sie die Zeitschrift fallen und starrte gebannt auf die Mattscheibe. Verwackelte Amateuraufnahmen zeigten dort ein hell in Flammen stehendes Schiff inmitten der tiefen Schwärze der Nacht. Mathilda musste hart schlucken und ihr Körper verkrampfte sich.

»…brach im Maschinenraum des Fährschiffes Ginette Leborgne, das sich auf dem Weg von Sardinien nach Malta befand, ein Feuer aus. Innerhalb von drei Stunden sank das Schiff zwischen Pantelleria und Malta vor der tunesischen Küste. Vor Ort eintreffende Rettungskräfte konnten bisher 30 der insgesamt 179 Passagiere retten. Hoher Seegang und Dunkelheit erschwerten die Rettungsarbeiten, die noch zur Stunde andauern. Über die Herkunft der Passagiere wurden bisher keine Angaben gemacht. Zum Sport…«

Mathilda versuchte sich selbst zu beruhigen. Er wird schon nicht auf dieser Fähre gewesen sein, redete sie sich ein. Fahren ja schließlich bestimmt mehr als 20 Fähren diese Strecke am Tag. Es gelang ihr nicht. Sie wusste, dass Gustav mit seiner Band »Boxer« noch gestern Abend auf dem »Time in Jazz«-Festival in Berchidda auf Sardinien gespielt hatte. Für den heutigen Tag sah ihr Reiseplan vor, dass sie mit einer Abendfähre nach Malta übersetzen wollten, wo sie morgen auf Einladung des deutschen Konsulats ein Konzert spielen würden. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer von Gundula Bonnacker. Gundulas Mann Jochen spielte ebenso in der Jazz-Band und beide Paare waren eng befreundet. Nach nur einem Klingeln war Gundula bereits am Apparat, was kein gutes Zeichen war, denn normalerweise ging sie meist sehr früh ins Bett und würde unter normalen Umständen nicht mehr um Viertel nach zwölf wach sein.

»Mathilda, es tut mir so leid«

»Ja, Bonnacker hier!«
»Gundi, hier ist Mathilda …«
»Mathilda! Das Schiff! Es ist gesunken!«
»Ich hab es eben im Fernsehen gesehen, aber es muss doch nicht das Schiff unserer Männer gewesen…«
»Doch«, unterbracht Gundula Mathilda, »Jochen hat mich vor fünfzehn Minuten angerufen und von der Katastrophe berichtet.«
»Aber wie …«, setzte Mathilda an und verfiel in Schweigen.
»Es gab eine Explosion, meinte er und überall war Feuer und er ist direkt ins Wasser gesprungen und hat sich an einem Rettungsring festgehalten. Ein tunesisches Boot an ihn gefunden und mit in den Hafen von Monastir genommen.«
»Weiß er was von Gustav?«, fragte Mathilda mit banger Stimme.
»Mathilda … er sagte, er ist mit ihm zusammen ins Meer gesprungen …«
»Dann ist er also bei ihm!«, stieß Mathilda hoffnungsvoll aus.
»Das ist es ja, Mathilda, warum ich Dich noch nicht angerufen hatte … Jochen macht sich schwere Vorwürfe, denn als er aus dem Wasser auftauchte und sich den Rettungsring schnappte, war Gustav verschwunden. Er rief nach ihm und paddelte die Umgebung ab aber bekam keine Antwort.«
Stille am anderen Ende der Leitung.
»Mathilda, es tut mir so leid.«
»Nein, nein, nein, nein. Das darf nicht sein. Gustav lebt! Das spüre ich!«

Als sie auch am nächsten Tag von den deutschen Botschaften in Italien und Tunesien nichts in Erfahrung bringen konnte, bestiegen Mathilda mit Martin ein Flugzeug nach Monastir. Über ihr Reisebüro hatte sie noch kurzfristig Zimmer im Hotel Vincci Nour Palace gebucht. Leider konnte sie nicht die Schönheit der zwischen Monastir und Mahdia gelegenen Anlage genießen, da sie den Tag im eingerichteten Katastrophenstab am Hafen von Monastir verbrachten. Mehr als 24 Stunden nach dem Unglück war die Zahl der geretteten Passagiere lediglich auf 44 gestiegen. 135 Menschen ließen ihr Leben bei diesem tragischen Fährunglück. Die Beamten vor Ort machten den beiden keine großen Hoffnungen mehr, Gustav noch einmal lebend wiederzusehen. Knapp 60 Leichen wurden aus dem Mittelmeer vor der Küste Tunesiens gefischt. Immerhin 40 knapp vor Malta. Man erklärte den beiden, dass das über die Straße von Gibraltar einfließende Wasser des Atlantiks diese Strömung bestimmt und es von daher nicht ungewöhnlich sei.

Beide besuchten die Überlebenden der Katastrophe, die im El Mouradi Club El Kantanoui, nördlich von Monastir einquartiert wurden. Gerne hätten sie mit Jochen gesprochen, doch der saß bereits in einem Flugzeug nach Berlin. Er sollte der einzige Überlebende der Band »Boxer« bleiben. Die Leichen der anderen Mitglieder, namentlich waren das Cliff, Frank und Horst, konnten zweifelsfrei identifiziert werden. Von den Überlebenden im Hotel konnte sich niemand an Gustav erinnern. Mit einer Fähre fuhren Mathilda und Martin zwei Tage später weiter nach Malta, wobei sie die ganze Fahrt an Deck verbrachten und vergeblich Ausschau nach Gustav hielten. Sie quartierten sich im Baystreet Hotel von Valetta ein und hofften auf Nachricht. Nach weiteren drei Tagen flog Martin zurück zu seiner schwangeren Frau Sabine nach Deutschland. Mathilda blieb noch eine ganze Woche und stand jeden Abend an der Hafenmole und erhoffte sich ein Lebenszeichen ihres Mannes. Es kam nicht. Stattdessen erhielt sie zwei Jahre später ein amtliches Schreiben, in dem Gustav Schönbeck offiziell für tot erklärt wurde. Ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen indes starb nie.

Malta…15 Jahre später

Gustav erhob sich schwerfällig von seinem Hocker und packte die Trompete in den dafür vorgesehenen Koffer. Der Frau, die ihn soeben mit seinem Namen angesprochen hatte, standen Tränen im Gesicht.

»Na, so traurig ist doch meine Musik hoffentlich nicht«, sagte er mit sanfter Stimme und legte seine Hand auf ihre Schulter. Es half nicht. Mathildas Schluchzen wurde nur noch heftiger.
»Gustav, erkennst Du mich denn nicht?«, begann sie wieder.
»Wie ich schon sagte«, begann er zögerlich, »an eine Begegnung mit Ihnen kann ich mich leider nicht entsinnen. Aber mein Gedächtnis ist auch nicht wirklich mehr das Beste.«

Der Portier des Phonicas, ein weißhaariger älterer Mann mit Zylinder, hatte die Szene zufällig beobachtet. Mit wenigen Schritten war er bei Martin, der immer noch ein klein wenig abseits von seinen Eltern stand, verloren wirkte und mit Tränen zu kämpfen hatte.

»Entschuldigen Sie«, sprach der Portier Martin auf deutsch an.
»Ja?«
»Kennen Sie den Mann?«
»Ja, er ist«, begann Martin und seine Stimme wurde plötzlich brüchig, »…mein Vater.«
»Ist das ihr Ernst?«
»Ja, wir dachten er wäre Tod. Vor 15 Jahren sank seine Fähre auf dem nach Malta …«
»Die Ginette Leborgne, ich erinnere mich.«
»Genau. Mein Vater war auf dieser Fähre, aber er wurde nie gefunden – weder tot noch lebendig und jetzt sitzt er hier und spielt auf seiner Trompete.«
»Einer Martin Committee, auf die Größen wie Miles und Gillespie schwörten. Das hat er mir erzählt«, berichtete der Portier und zeigte dabei auf Gustav.
»Was wissen Sie noch?«, fragte Martin nach.
»Nicht viel. Vor etwa 13 Jahren muss es gewesen sein, da tauchte er hier das erste Mal mit seiner Trompete auf. Normalerweise dulden wir keine Musikanten vor unserem Hotel, aber für den feinen Jazz von Gustav haben wir gerne eine Ausnahme gemacht.«
»Sie kennen also seinen Namen?«
»Ja, aber vielmehr auch nicht. Fragen nach seiner Vergangenheit wich er immer aus oder konnte sie nicht beantworten. Jeden Tag sitzt er hier und spielt. Er gehört quasi zum Inventar und bewohnt auch ein Zimmer für Angestellte hier im Hotel. Es freut mich zu sehen, dass er doch Familie hat. Gustav wirkt immer so traurig, wenn er nicht gerade spielt.«
»Danke das Sie sich um ihn gekümmert haben, aber er scheint sich nicht mehr an uns zu erinnern.«
»Nun, ich lese viel. Menschen, die ihr Gedächtnis durch einen Schock oder was auch immer verloren haben, kann durch Gegenstände, Orte oder Personen aus ihrer Vergangenheit geholfen werden, sich wieder zu erinnern.«
»An meine Mutter kann er sich offensichtlich nicht erinnern.«
»Versuchen Sie es doch einmal, schließlich sind sie sein Sohn und zwischen ihnen besteht ein ganz besonderes Band.«

Martin ging hinüber zu Gustav, der noch immer seine Mutter versuchte zu trösten. Während er sich näherte, fiel ihm der große braune Jackettknopf in seinem Portemonnaie ein. Dieser war einst der Talisman seines Vaters gewesen, den er vor seiner Abfahrt vor 15 Jahren zu Hause hat liegen lassen. Der Knopf gehörte einst zu dem Jackett, das Miles Davis bei seinem Auftritt 1964 in der Berliner Philarmonie trug. Nach dem Konzert wurde Miles von Leuten bedrängt und irgendjemand riss ihm dabei den Knopf vom Revers. Gustav sah ihn über den Boden rollen und nahm ihn an sich.

»Hallo Vater, ich hab hier etwas für Dich.« Gustav schaute zu erst Martin an, bevor sein Blick auf den Knopf fiel und sein Gesichtsausdruck plötzlich aufhellte und sein Blick klar und deutlich und wissend wurde.
»Martin! Mein Sohn! Mathilda! Oh mein Gott, was ist …«, er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Seine Füße versagten ihren Dienst und Gustav sackte in sich zusammen. Martin war fing seinen Vater auf und hievte ihn wieder auf seinen Hocker. Der Portier eilte los um ein Glas Wasser zu holen. Gustav hatte nur kurz das Bewusstsein verloren. Mit einem wachen und neugierigen Blick, der doch unglaublich viel Traurigkeit in sich barg, wollte er gerade wieder das Wort ergreifen, doch Mathilda kam ihm zuvor.

»Es ist in Ordnung Gustav. Du brauchst nichts zu sagen. Schön das Du wieder da bist. Dein Sohn hat sich prächtig entwickelt und gleich da hinten warten schon Deine Enkelkinder auf Dich.«

Gustav schaute rüber zum Hoteleingang, wo Sabine mit Dorothea und Karl wartete. Die drei blickten in seine Richtung. Karl lachte und winkte mit der Hand. Gustav erwiderte das Lächeln und verlor vollkommen die Kontrolle über den Fluss seiner salzigen Augenflüssigkeit verlor. Alle Dämme brachen.

Fortsetzung folgt


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