Episode 31

Von Tobib

Was bisher geschah:

Nach einer Woche Kalabrien bestieg Familie Schönbeck bei Rom ein Kreuzfahrtschiff. Die Route sollte sie durch das westliche Mittelmeer führen. Savona, Barcelona, Mallorca und Tunis lagen bereits hinter ihnen, als sie im Hafen von Valetta ankerten. Beim Landgang stockte Mathilda der Atem. Vor einem Hotel wähnte sie ihren verschollenen Ehemann Gustav, dessen Schiff vor 15 Jahren im Mittelmeer versunken war.

»Ja, hast Du ihn denn nicht gesehen?«

»Haltet den Bus an!«, schrie Mathilda, nachdem das Gefährt sich nach Grünwerdung der Ampel wieder in Bewegung gesetzt hatte. Der erschrockene Busfahrer tat wie ihm befohlen. Er trat mächtig auf die Bremse und die Köpfe der Passagiere sausten synchron in Richtung Kopfteil des jeweiligen Vordersitzes.

»Mutter, was ist denn los?«, erkundigte sich Martin mit einer Spur Panik in der Stimme.
»Ja, hast Du ihn denn nicht gesehen?«
»Wen gesehen?«
»Deinen Vater!«
»Was? Hast du Fieber?«
»Halt mich nicht für verrückt, ja! Dort vor dem Hotel hab ich eben Deinen Vater sitzen und Trompete spielen gesehen.«
Martin blickte seine Mutter völlig entgeistert an. Mathilda erkannte den Blick. Genau so würde sie jemanden anschauen, der gerade von seinem letzten Trip mit einem grünen Männchen zum Mars berichtet hätte. Sie wollte sich nicht rechtfertigen und griff nach dem Arm ihres Sohnes.
»Komm, finden wir gemeinsam raus, ob ich jetzt den Verstand endgültig verloren habe oder ob da wirklich Dein Vater sitzt und spielt.«

»Ähhh … Hallo? Herrschaften, das hier ist aber kein offizieller Haltepunkt unserer Rundfahrt!«, ermahnte der Reiseleiter Mathilda und Martin, die gerade im Begriff waren den Bus zu verlassen.
»Für uns endet die Rundfahrt hier! Vielen Dank für Ihre Mühen«, entgegnete Mathilda trocken.
»Achso?«, fragte Martin.
»Sie brauchen sich dann aber nicht bei Ihrem Reisebüro wegen einer Kostenerstattung zu beschweren, ja?«, fügte der Reiseleiter noch hinzu, wurde aber völlig überhört.
»Tja, wenn das so ist«, begann Martin, »Sabine? Kinder? Kommt, wir verlassen den Bus und gehen Opa suchen.«
Aus drei Mündern war gleichzeitig ein überrascht fassungsloses »Opaaaa?« zu vernehmen, bevor sie sich Martin und Mathilda anschlossen und den Bus ebenfalls verließen.

Verlor Mathilda den Verstand?

Der gecharterte rote Bus der Reederei fuhr los und einige der Insassen bedachten Schönbecks mit mitleidigen Blicken, wie sie sonst nur die in Berlin frei umherlaufenden Irren in öffentlichen Verkehrsmitteln erhalten. Ein kleiner Junge führte noch die berühmten Kreisbewegungen mit dem Zeigefinger neben dem Kopf auf. Okay, wir sind jetzt die Bekloppten, dachte sich Martin, wobei ihm das im Moment nicht weiter kümmerte. Viel schlimmer war, dass seine Mutter jetzt offenbar am durchdrehen wäre. Er hielt die Kreuzfahrt für eine gute Idee, gerade weil sie durch die Gewässer fahren würden, wo sein Vater damals verschwand. Es sollte ein für alle Mal Schluss sein mit diesem ewigen Hoffen auf eine Rückkehr von Gustav. Offenbar hatte er den seelischen Zustand seiner Mutter falsch eingeschätzt. Statt Abschied von Gustav machte sich jetzt ganz offensichtlich ihr Verstand aus dem Staub.

Um zum Hotel Phoenicia zu gelangen, mussten Schönbecks die Straße überqueren. Die Sicht aufs Hotel versperrte ein großer dunkler Lieferwagen und gerade als sie die Hälfte der Straße bereits passiert hatten, fuhr dieser an und Martin und Mathilda blieben wie angewurzelt stehen. Der ältere Herr, der dort auf einem Hocker neben dem Eingang des Luxushotels saß und mit seiner Martin Committee Jazz unter die Leute brachte war Gustav! Ganz eindeutig. Egal wie lange man einen vertrauten Menschen nicht mehr gesehen hatte, bestimmte Muster setzen sich fest in unseren Gehirnen und lassen uns bekannte Personen in sekundenschnelle und ohne Zweifel wiedererkennen. Obwohl der Kopf des Trompetenspielers durch eine beige Schiebermütze bedeckt wurde, die einen Blick auf seine Augen aus ihrer Perspektive unmöglich machte, war es die Art und Weise, wie er die Backen zum Spielen aufblähte und wie er seinen linken Fuß dabei ausstreckte. Genau so hatte Martin seinen Vater in Erinnerung, wenn er damals Jazz spielte.

Sabine und die Kinder waren längst über die Straße gegangen. Mathilda und Martin standen immer noch auf ihr und hatten diesen sonderlichen starren Blick, den wohl nur Menschen haben, die gerade eine Erscheinung hatten. Ein wütender Autofahrer holte sie durch seine Stakkato-Nutzung der Hupe wieder zurück in die Gegenwart. Langsam setzten sie sich in Richtung des Trompeters in Bewegung.

»Geister gibt es gar nicht!«

»Was ist denn bitte mit Papa und Oma los?«, fragte Dorothea ihre Mutter.
»Ich glaube, die beiden haben gerade einen Geist gesehen.«
»Einen Geist?«, hakte Dorothea nach.
»Geister gibt es gar nicht!«, protestierte Karl.
»Nun, ich weiß es nicht genau, aber der Mann mit der Trompete da, das könnte durchaus Euer Großvater sein. Also Papas Papa.«
»Hä? Der ist doch längst Tod, habt ihr immer erzählt«, kam es ungläubig von Dorothea.
»Ja. Nein. Ich meine, seine Leiche wurde niemals gefunden. Ich war gerade mit dir schwanger Doro, als die Fähre von Opa Gustav hier in der Region sank. Unter den geretteten Passagieren war er nicht und unter den tot geborgenen ebenfalls nicht.«
»Heiliger Bimbam!«, stieß Dorothea aus.
»Juhuuuu Opa lebt!«, jubilierte Karl.

Der Trompetenspieler indes bekam von all dem nichts mit. Er war in seiner Musik versunken und gab alles am Instrument. Passanten warfen ihm kleinere Geldbeträge in den Trompetenkoffer und spendeten Applaus. Kreidebleich und mit langsamen Schritten nährten sich Mathilda und Martin. Fünfzehn Jahre hatten sie gehofft und gebangt und zumindest Martin wollte nicht mehr an ein Happy End glauben. Dieser Moment auf Malta wirkte einfach nur surreal. Sie standen jetzt direkt vor ihm und er spielte so, wie er immer spielte, wie sie es in Erinnerung hatten. Martin standen die Tränen in den Augen. Niemals hätte er damit gerechnet, seinen Vater noch einmal an der Trompete zu erleben, die damals Miles Davis so berühmt machte. Wie gerne hätte er seinen Vater bei all den großen Momenten seines Lebens in der Nähe gewusst. Seinen Uni-Abschluss, die Geburt der Kinder, die Hochzeit mit Sabine, die Gründung der eigenen Firma…Martin zitterte.

Das Stück war zu Ende und der alte Mann setzte die Trompete ab und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Wie in Trance machte Mathilda einen Schritt auf ihn zu. Sie stand nun direkt vor ihm und der Mann blickte langsam auf, wobei er seine Mütze nach oben schob, um der Dame seine gesamte Aufmerksamkeit schenken zu können.

»Gustav, wo hast Du nur all die Jahre gesteckt?«, fragte sie ihn.
Die Antwort versetzte ihr einen Stich ins Herz.
»Tut mir Leid, kennen wir uns etwa?«

Fortsetzung folgt