Entscheidung in der Sierra Chica, Teil 5

Von Martin Gehring

Zum vierten Teil
El Pollo war eine Gestalt von sagenhaftem Ruf. Wenn man den Erzählungen und Spekulationen, die rund um die Sierra Chica kursierten, Glauben schenken durfte, war El Pollo mindestens doppelt so groß wie ein normaler Hahn. Er hatte pechschwarzes, in der Sonne blaugrün glänzendes Gefieder. Ein kolossaler roter Kamm mit einem Durchschussloch zierte sein Haupt. El Pollo hatte stechende schwarze Augen und den spitzesten  Schnabel ringsum. Er war stets einen schwarzen Poncho gekleidet und hatte einen gewaltigen, ebenfalls schwarzen, mit Silberfäden durchwirkten Sombrero auf dem Kopf. Zudem sah man ihn nie ohne seine Gesichtsmaske. Um die Hüfte trug er einen breiten Patronengurt mit einer silberglänzenden, riesigen Gürtelschnalle, in die sein Porträt ziseliert war. Links und rechts hingen in ledernen, mit goldenen Nieten verzierten Holstern herrlich gearbeitete Bohnenrevolver, die stets gut geölt und schussbereit waren. Lederne Reitstiefel mit polierten Sporen komplettierten das Bild, dass sich dem Betrachter von El Pollo bot.
Nicht minder spektakulär war sein Reittier. Es handelte sich dabei um einen nachtschwarzen, groß gewachsenen Klapperhasen von edlem Blute, der über die längsten und schärfsten Ohren der ganzen Sierra verfügte. Das Tier konnte so unglaublich schnell hoppeln, dass El Pollo theoretisch in der Lage war, auf der Flucht jeden Verfolger abzuhängen, was jedoch nie geschah, da er nicht floh, sondern sich allen Gefechten stellte. Der Hase hatte strahlend weiße, hervorragend gepflegte Zähne, mit denen er rund um die Uhr klapperte. Sattel samt Taschen und Zaumzeug bestanden aus feinstem Leder, in welches die Geschichte des Heldenmutes von El Pollo in aufwändigen Bildern geprägt war.
Es rankten sich auch unzählige Mythen und Legenden um seine Taten. So zog er zum Beispiel so schnell, dass er aus dem einen Revolver eine Bohne abfeuern konnte und diese mit der Bohne des anderen Revolvers in der Luft abschießen konnte. Er hatte eine große Anzahl gefährlicher Ganoven und durchgedrehter Pistoleros zur Strecke gebracht und dem Arm des Gesetzes überantwortet. So hatte er einmal eine Bande Hühnerhabichte, bekannt und gefürchtet unter dem Namen Los Azores, mit bloßen Flügeln erledigt, als sie über ein friedliches Dorf hergefallen waren, um es auszuplündern. El Pollo saß gerade in der örtlichen Taverne und wollte dort in aller Gemütsruhe den berühmten, landauf landab gepriesenen lokalen Tequila verkosten, als einer der Los Azores herein gestiefelt kam und mit einem gezielten Schuß aus seinem Bohnenrevolver den irdenen Trinkbecher von El Pollo in dem Moment zerschmetterte, als er gerade zum Trinken ansetzen wollte. Daraufhin wurde El Pollo wirklich ungemütlich. Er ärgerte sich dabei weniger über den zerstörten Becher, sondern viel mehr darüber, dass der kostbare Tequila seinen frisch gewaschenen Poncho verkleckerte. Um es kurz zu machen: Die Habichte waren nach El Pollos Intervention so demoralisiert, dass sie auf der Stelle beschlossen, in ein Kloster einzutreten und fortan nur noch gute und gemeinnützige Taten zu vollbringen.
Ein anderes mal geriet El Pollo an einen wirklich üblen Gegner: Er ritt gerade gemütlich durch einen felsigen Ausläufer der Sierra Chica, als nicht allzu weit entfernt der ploppende Knall eines Bohnenrevolvers zu hören war. Die Bohne durchschlug El Pollos Sombrero und seinen Kamm und blieb in der Krempe seines Hutes liegen. Der Held sprang reaktionsschnell aus dem Sattel seines Klapperhasen und suchte hinter einem Felsen Deckung. Dort untersuchte er das Projektil, das ihn getroffen hatte. Es war eine gefleckte Feuerbohne, in die zwei Teufelshörner eingeritzt waren. Das Zeichen von El Diablo, dem übelsten und hinterlistigsten Desperado in der gesamten Sierra Chica. El Pollo überlegte nicht lange, dann rief er in die Richtung, in der er seinen Widersacher vermutete:
Buenos Dias, El Diablo. War das alles? Schick' mir doch noch ein paar Bohnen hinüber, damit ich mir zum Abendessen ein richtig scharfes Chili kochen kann.“
Nach einem kurzen Moment kam die Antwort: „El Pollo, alter Sportsfreund. Als ob Du ein brauchbares Chili kochen könntest. Ich wette mit Dir, dass ich das schärfste Chili der Welt zubereite.“
„Mach Dich nicht lächerlich, Diablo. Komm' nur rüber. Dein Chili ist ein laues Lüftchen gegenüber meinem. Ich koche ich Dir ein Chili, dass Dir Dein Hühnerhirn aus dem Schädel bläst.“
„Das will ich sehen.“, ließ sich El Diablo vernehmen. „Wie wäre es mit einem Wettkochen. Jeder von uns kocht sein Chili und lässt den Anderen kosten. Gewonnen hat derjenige, der das schärfste Chili kocht. Abgemacht?“
„Abgemacht!“
Vorsichtig erhoben sich die beiden Streithähne aus ihrer Deckung und gingen aufeinander zu. Schnell waren die Regularien des Kochwettbewerbes vereinbart und schon bald brannten zwei kleine Lagerfeuer, auf denen jeweils in einem Topf die Gegner ihr Chili zubereiteten. Einen kurzen Moment zweifelte El Pollo daran, ob er den Wettstreit gewinnen würde, denn El Diablo entrollte eine Decke, aus der eine Sammlung nie gesehener Chilischoten von exorbitanter Schärfe zum Vorschein kam. Doch El Pollo schwor auf seine geheime Zutat. Vor Jahren hatte ihm ein Indiohuhn, dass er etwas besser kannte, auf dem Sterbebett von der mexikanischen Gewürzspinne erzählt, einem Tier, dass getrocknet und zerrieben so scharf war, dass man davon nur winzigste Mengen, gerade ein paar Körnlein in das Chili streuen durfte. Im Laufe der Zeit hatte sich El Pollo an das Gewürz gewöhnt und konnte, so abgehärtet, immer größere Mengen davon vertragen. El Diablo beobachtete amüsiert El Pollos Bemühungen, eine ordentliches Chili zusammenzurühren. Normale Schoten, normale Bohnen, was daran sollte scharf sein? Doch in einem Moment, als Diablo gerade nicht hinsah war, schüttete El Pollo eine ordentliche Menge Gewürzspinnenpulver, dass er stets in einem kleinen Beutel an seinem Gürtel trug, in sein Chili, rührte gut um und kostete. Perfekt. Der Eintopf war fertig. Auch das Chili des Gegners war jetzt so weit. Nun ging es ans Kosten. El Pollo machte den Anfang: Er schöpfte sich einen ordentlichen Schlag von El Diablos Chili in seinen Napf und begann zu essen. Hm, nicht schlecht. Von angenehmem Geschmack, mit ein bisschen Pfiff, aber insgesamt recht fade. Natürlich war das Chili, dass El Diablo gekocht hatte, höllisch scharf. So scharf, dass man normalerweise einen Waffenschein dafür gebraucht hätte, doch dank der Gewürzspinnenkur war El Pollo Härteres gewöhnt. Um seinen Gegner nicht bloß zu stellen, tat er aber zumindest so, als wäre Diablos Chili ganz schön scharf und lobte es gebührend.
Nun war El Diablo an der Reihe. Siegessicher steckte er den Holzlöffel mit El Pollos Chili in den Schnabel und schluckte. Als erstes schossen Tränen in El Diablos Augen, während kochendes Blut in seinen kapitalen Kamm schoss. Er japste nach Luft und versuchte, um Hilfe zu gackern. Der Schweiß lief ihm in Strömen aus den Federn, die an seiner Halskrause büschelweise auszufallen begannen. Er sprang auf und hüpfte wie ein Wilder um das Camp, während er beängstigend hyperventilierte. Er kam flatternd auf El Pollo zu und konnte gerade noch ein verbranntes „Du...“ keuchen, ehe er sein Bewusstsein verlor. Als El Diablo Stunden später wieder zu sich kam, musste er neidlos anerkennen, dass El Pollo der Sieger war. Die beiden wurden gute Freunde, doch ein würziges Chili rührte El Diablo nie wieder an.
Dass El Pollo neben den vorgenannten Eigenschaften auch noch unermesslich reich war, seit er über eine Goldader gestolpert war, soll in diesem Zusammenhang nur in einem Nebensatz erwähnt werden.
Über dies und vieles mehr machte sich der tapfere Sancho Gedanken, während er einsam in der Abgeschiedenheit der Sierra Chica an seinem Lagerfeuer hockte und, begleitet vom Zirpen der Grillen, den Sternenhimmel betrachtete. Sancho war schon vor dem Morgengrauen aufgebrochen, nicht ohne eine ganze Litanei guter Ratschläge von Padre Léon zu bekommen. Ehe er losritt, steckte der Priester Sancho noch heimlich einen Peso zu, segnete ihn im Namen des großen Hühnergottes und wünschte ihm eine erfolgreiche Reise und eine glückliche Heimkehr. Doch würde das Abenteuer gut ausgehen? Würde er El Pollo finden? Und falls ja, wäre El Pollo überhaupt bereit, bei der Rettung Carrizos vor den Four Cocks zu helfen? Sancho wusste, dass er nicht versagen durfte. In eine ungewisse Zukunft sehend, setzte er sich mit aufgeplustertem Gefieder und einem unguten Gefühl auf seine mitgebrachte Reisehühnerstange und ließ sich von den Geräuschen seines Reittiers in den Schlaf klappern.
Der nächste Teil erscheint am Mittwoch.