Entscheidung in der Sierra Chica, Teil 1

Von Martin Gehring

Wie eine glühend heiße Pfanne lag die endlose Ebene der Sierra Chica erbarmungslos in der stechenden Sonntagmittagsssonne. Die Luft flimmerte in der Hitze, kein Windhauch regte sich, nicht eine Wolke war am Himmel zu erblicken. Lediglich ein paar krumm gewachsene Kakteen mit kolossalen, nach Blutvergiftung aussehenden Dornen spendeten der Sierra etwas Schatten, obwohl dieser den Namen nicht ernsthaft verdiente. Mit einem raschen Schaben und Scharren verschwand zischelnd eine Schlange durch die Augenhöhle des grinsenden, ausgebleichten Schädels eines Pferdes, dass hier vor langer Zeit verendet war. Ansonsten war die Sierra Chica zur Mittagsstunde zweifellos der lebensfeindlichste Ort im gesamten Süden. Und doch existierte Leben und sogar ein Anflug von Zivilisation dieser Einöde.
Am Rande der Ebene lag ein erbärmlich kleines, halb von Sand verschüttetes Dorf namens Carrizo. Einige schiefe Lehmhütten, die schon bessere Tage gesehen hatten, ein Saloon mit staubblinden Fensterscheiben und knarzenden Türflügeln, die Kirche Nuestro Huevo Sagrado mit ihrem schiefen und bröckelnden Turm, der so einsturzgefährdet war, dass der Padre sich schon lange nicht mehr getraute, die scheppernde, gesprungene Glocke zu läuten, ohne Gefahr zu laufen, dass ihm die gesamte baufällige Architektur auf den Kamm krachen würde. Am Rand von Carrizo trotzte ein verdorrtes Maisfeld mit seinem kläglich raschelnden, braunen Gestrüpp elender Stängel der unerbittlich vordringenden Wüste. Am anderen, nicht sehr weit entfernten Ende des Dorfes lag die Koppel mit der Wasserstelle. Zu dieser Jahreszeit jedoch war der kleine Teich nichts weiter als ein brackig schlammiges Loch mit einer Pfütze lauwarmer, trüber Dreckbrühe. Im Schatten unter den dornigen Büschen rund um die Tränke drängten sich, gemeinsam mit einem Schwarm Fliegen, einige Reittiere – Klapperhasen, die ihrem Namen gerecht werdend, unablässig mit den Zähnen klapperten und ziemlich lustlos an den kleinen, harten Blättern der Sträucher nagten. Ansonsten wirkte Carrizo wie ausgestorben. Alle Einwohner hatten sich zur Siesta in die kaum noch kühlende Dunkelheit ihrer Hütten zurückgezogen, um den Spätnachmittag abzuwarten. Kein vernünftiges Huhn wagte sich um diese Tageszeit ohne guten Grund auf die Straße und in die gnadenlose Mittagshitze.
Nur Sancho hatte heute die Arschkarte gezogen und musste die Mittagswache halten. Trotz der hohen Temperaturen stand er kerzengerade, in Poncho und Sombrero gekleidet und mit einem rostigen und altertümlich verschnörkelten Trumm von Bohnenrevolver bewaffnet, auf dem windschiefen Aussichtsturm am Rande von Carrizo oder besser gesagt der Sierra Chica, dann der Übergang verlief fließend. Er beobachtete die mörderische Ebene, während ihm unablässig der Schweiß aus dem Gefieder sickerte und allmählich eine kleine Pfütze auf dem roh gezimmerten Holzboden der Plattform bildete. Zu gerne hätte Sancho jetzt einen Schluck kühlen, erfrischenden Wassers und einen kleinen Körnersnack gehabt, doch er durfte seinen Posten nicht verlassen, bis die Ablösung kam. Er hatte sich schon mental darauf eingerichtet, dass er sich heute wieder zu Tode langweilen würde, als er plötzlich weit entfernt eine Bewegung und dann einen kleinen, schwarzen Punkt am Horizont erspähte.
Sancho war sich nicht sicher, ob er sich vielleicht getäuscht hatte, denn schließlich konnte der Punkt nichts weiter sein als eine Luftspiegelung, wie sie um diese Jahreszeit nicht besonders selten war. Doch der Punkt blieb und wurde immer größer. Dann teilte er sich und wurde am Ende zu vier Punkten, die sich schnell auf Carrizo zubewegten. Sancho traute seinen Augen nicht. Vier Reiter, die auf das Dorf zukamen? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er schnappte sich den geladenen Bohnenrevolver, der schwer auf dem Sitzbänkchen der Aussichtsplattform lag, kletterte hastig die lieblos zusammengenagelte und nicht sehr vertrauenswürdig wirkende Leiter hinunter und flatterte mit wehendem Poncho, so schnell er konnte, zur Kirche. Unterwegs verlor er seinen Sombrero, der im Staub der Hauptstraße (die übrigens zugleich die einzige Straße von Carrizo war) ausrollte und liegen blieb. Als Sancho die Kirche erreicht hatte, stellte er sich vor die verzogene Eingangstüre des Hauptportals (das übrigens zugleich das einzige Portal der Kirche war) und krähte, so laut er konnte:
ALARM!
Zum zweiten Teil