Zum zehnten Teil
Die Sonne stand schon hoch am Himmel über San Fernando, als Sancho endlich erwachte. Mit steifen Gliedern kletterte er von seiner Hühnerstange und schüttelte sich den Schlaf aus dem Gefieder. Im Spiegel über dem Waschtisch begutachtete er die Verwundung, die er sich gestern zugezogen hatte, als er den Falschspieler überwältigt hatte. Die blaue Bohne hatte ein kreisrundes Loch in seinen Kamm gestanzt.
„Wie El Pollo“, dachte er sich und war im nächsten Moment hellwach. Heute wollte er El Pollo besuchen und mit ihm reden. Monsieur Coq au Vin hatte ihm den Weg zu El Pollos Haus beschrieben (Die letzte 'aus auf die linke Seite. Sie können sie gar nischt verfehlen.) und versprochen, zur Mittagsstunde ebenfalls dort zu erscheinen. Zuvor hatte er allerdings noch verschiedene Geschäfte im Ort zu erledigen, auf die er jedoch nicht näher einging. Sancho warf sich seinen Poncho über, nahm seinen Sombrero vom Kleiderhaken und verließ nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel sein Zimmer. Da das Wetter so schön war und er es nicht versäumen wollte, die weithin berühmten hölzernen Gehsteige von San Fernando auszuprobieren, beschloss er, den kurzen Weg zu El Pollos Domizil zu Fuß zurückzulegen.
Die Kunde von Sanchos Heldentaten hatten sich inzwischen wie ein Lauffeuer im ganzen Ort verbreitet. Deshalb bildete sich schon direkt vor dem Saloon eine gaffende und staunende Traube schaulustiger Hühner, die ihn auch auf der ganzen Strecke nicht aus den Augen ließ. Unter Glückwünschen und Schulterklopfen erreichte Sancho schließlich sein Ziel. El Pollo hatte ein hübsches gepflegtes Lehmhäuschen, dass von einem bunt leuchtenden Blütenmeer umgeben war. In seinem Garten gediehen neben prachtvollen Blumen auch Bohnen, Ziermais und etliche andere Gemüsesorten. Mitten im Garten stand gebeugt ein alter, ergrauter Hahn mit einem zerrupften Strohhut auf dem Kopf und einer fleckigen, vielfach geflickten grünen Schürze und begoss mit einer verbeulten Blechgießkanne gerade einen ganz besonders prächtigen Rosenstock, der in voller Blüte stand. Sancho öffnete das Gartentor, trat ein und sprach sodann den Gärtner an:
„Buenos Dias, Señor. Können Sie mir sagen, ob El Pollo zu Hause ist? Ich muss dringend mit ihm sprechen.“
Der Gärtner stellte seine Gießkanne ab und kratzte sich am kahl gewordenen Hals, während er Sancho von oben bis unten mit taxierendem Blick betrachtete.
„Und du bist ganz bestimmt der berühmte Sancho aus Carrizo, von dessen Heldenmut in letzter Zeit so viel geredet wird.“
„Alles nur Übertreibung“, sagte Sancho in aller Bescheidenheit und nahm seinen Sombrero ab.
„Aber ich muss jetzt wirklich unbedingt mit El Pollo reden. Die Zukunft und das Schicksal von Carrizo stehen auf dem Spiel.“
„Nun, wenn es so furchtbar wichtig ist, wollen wir doch gleich mal nachsehen, ob der alte El Pollo heute Sprechstunde hat“, antwortete der Gärtner und forderte Sancho freundlich auf, ihm ins Haus zu folgen.
In der erfrischenden Kühle und Dunkelheit des Hauses angekommen, zog der alte Hahn die Gartenschürze aus, nahm seinen Strohhut vom Kopf und hängte beides an einen Haken an der Wand. Dann ließ er sich in einem bequemen Lehnstuhl nieder und bat Sancho, ebenfalls Platz zu nehmen. Dieser staunte nicht schlecht, als der das Loch im Kamm des Gärtners sah. War der alte Gockel am Ende El Pollo? Das konnte nicht sein. Der Alte hatte Sanchos verblüffte Blicke bemerkt und sagte:
„Du suchst also El Pollo? Du hast ihn gefunden, oder besser gesagt das, was von ihm übrig ist?
„Sie sind El Pollo?“, antwortete Sancho.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich sie nicht früher erkannt habe.“
„Natürlich nicht, wie auch. Außerdem wäre es richtiger gewesen, zu sagen: Ich war El Pollo. Aber diese Zeiten sind längst vorbei und ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Ich habe in meinem langen Leben genug erlebt und jetzt ist es an der Zeit, in einem kleinen Häuschen zu wohnen, den Garten zu bestellen und den Küken im Ort an kalten Abenden Abenteuergeschichten von El Pollo zu erzählen. Aber nun berichte mir, was dich zu mir führt.“
Sancho erzählte El Pollo nun in aller Ausführlichkeit vom hinterlistigen Überfall der Rooster-Brüder auf sein Heimatdorf und von ihrer Forderung nach den Wertsachen der Einwohner. Er schilderte, wie Padre Léon von den Banditen gerupft und seines silbernen Eies beraubt wurde und nicht zuletzt die Verzweiflung darüber, dass die Pistoleros zu allem Überfluss auch noch El Pollos Kopf einforderten und deshalb zum nächsten Hühnermond nach Carrizo zurück kämen. Der Alte hörte sich Geschichte an, unterbrach ab und zu, wenn er eine Frage hatte, dachte eine Weile stumm nach und begann dann zu erzählen:
„Hör' mir gut zu, Sancho. Ich werde dir jetzt die Geschichte von El Pollo erzählen. Einst war ich ein junger, unternehmungslustiger Gockel und Heißsporn. Mir waren kaum die Daunen ausgefallen und die ersten dunklen Federn nachgewachsen, da verließ ich mein Heimatdorf irgendwo am Rande der Sierra Chica, um die Welt und ihre Wunder zu erkunden. Ich kam weit herum, erlebte viel und manchmal handelte ich mir auch jede Menge Ärger ein. Eines Tages ritt ich, wie immer auf der Suche nach neuen Abenteuern, durch ein felsiges, staubtrockenes Tal. Plötzlich kam mir ein gesattelter Klapperhase ohne Reiter entgegen gehoppelt. Es war ein prachtvolles und stolzes Tier mit glänzendem schwarzen Fell und ungewöhnlich langen Ohren. Ich verfolgte den entlaufenen Hasen und schließlich gelang es mir, ihn mit dem Lasso einzufangen. Als ich weiter ritt, sah ich vor mir am Boden einen Hahn liegen. Er trug einen schwarzen Sombrero mit einem Muster aus Silberfäden, eine Maske vor dem Gesicht und einen ebenfalls schwarzen, fein gewebten Poncho. Ich stieg ab, ging zu dem Verletzten hin und fragte ihn, was geschehen war und wie ich ihm helfen könnte. Er sah mich an und antwortete dann mühsam und mit schwacher Stimme:
„Du kannst nichts mehr für mich tun, mein junger Gringo. Ich bin vorhin, als ich meinen Hasen hier vorbei führte, von einer tödlich giftigen Schlange gebissen worden. Das Gift hat sich schon in meinem Körper ausgebreitet und ich werde bald sterben.“
Ich fragte ihn nach seinem Namen und er stöhnte leise:
„El Pollo.“
Der vergiftete Hahn blieb noch so lange am Leben, dass er mir unter Schmerzen, auf einen Flügel aufgestützt, erzählen konnte, was es mit El Pollo auf sich hatte. Er hatte den Namen irgendwann in jungen Jahren von seinem Vorgänger geerbt und dieser davor ebenfalls. Nun war er der letzte Vertreter einer langen Reihe von El Pollos. Er musterte mich gründlich und bat mich dann inständig und dem Tode nahe, der nächste El Pollo und sein damit Nachfolger zu werden. Ich hatte rund um die Sierra Chica schon viele Geschichten von El Pollos Heldentaten und seinem strahlenden Ruhm gehört und deshalb fiel es mir nicht besonders schwer, den letzten Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Was hatte ich schon zu verlieren? Als mein Vorgänger kurze Zeit später seinen letzten Atemzug tat und in meinen Flügeln starb, nahm ich mir seinen Poncho, den Sombrero, seine Bohnenrevolver und band mir die Maske vor das Gesicht. Dann hob ich mit bloßen Schwingen eine flache Grube im steinigen Boden aus und bestattete den toten Hahn zusammen mit meinen Kleidern und auch meinem bisherigen Leben. Ich fand ein altes, verwittertes Brett bei einer eingestürzten Holzhütte, ritzte dort meinen Namen ein und steckte es auf den Grabhügel. Dann stieg ich in den Sattel des schwarzen Klapperhasen, der nun mir gehörte und wurde der nächste El Pollo.“