Nina hat ein grosses Problem : Soll sie Steffen, ihren Chef, heiraten - oder lieber ihren Jugendfreund Björn ? Die Wahl fällt ihr gar nicht leicht, denn beide sind einander viel zu ähnlich …
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Nina stand reichlich verstört droben am Übungshang. Da sollte sie hinunter? Jeder Muskel ihres Körpers tat ihr weh, ihr Kopf schwirrte von Ausdrücken wie Fall-Linie, Ei-Stellung, Pflug, Spitzkehre. Warum tat sie sich das nur an? Nach drei Tagen Intensivkursus glaubte sie zu wissen, dass sie für diesen Sport hoffnungslos unbegabt war, aber er würde nun mal zu ihrem zukünftigen Leben gehören. Egal ob sie sich für Steffen oder für Björn entschied - beide waren begeisterte Skiläufer, und es war besser, sich darauf vorzubereiten.
Auf Zuruf des Skilehrers stiess sie sich endlich ab. Zu ihrer grossen Überraschung schaffte sie fast hundert Meter, ohne hinzufallen, doch plötzlich rundeten sich ihre Augen vor Schreck: Ein Skiläufer raste quer über den Hang auf sie zu und machte verzweifelte Zeichen, dass er nicht anhalten könne. Da prallten die zwei auch schon aufeinander und rutschten zusammen den Hang hinunter, bis sie in einer Senke liegen blieben.
„Verzeihen Sie, haben Sie sich weh getan?“ fragte er atemlos. Mit einer schmerzlichen Grimasse bewegte Nina ihre Glieder: „Höchstens ein paar blaue Flecken, aber darauf kommt’s jetzt auch nicht mehr an. Und Sie?“
„Alles in Ordnung.“
Er half ihr aufzustehen, und gemeinsam sammelten sie ihre Stöcker und Bretter ein, die sich selbstständig gemacht hatten. Als sie wieder auf den Skiern standen, rückte sie ihre verrutschte Skibrille zurecht und ermahnte ihn: „Passen Sie das nächste Mal ein bisschen besser auf, ja?“
„Ich werd’s versuchen“, versprach er reumütig.
Sie hob lässig die Hand und glitt davon, war jedoch derart damit beschäftigt, eine einigermassen gute Figur zu machen, dass sie eine Baumwurzel übersah. Ein heftiger Schmerz im Knöchel trieb ihr die Tränen in die Augen. „Mein Fuss“, stöhnte sie.
Unverzüglich setzte er sich neben sie in den Schnee. „Rühren Sie sich nicht! Ich hole sofort Hilfe.“
„Sie? Wie wollen Sie denn das anstellen?“ Trotz ihrer Schmerzen musste Nina lachen.
Es war der Skilehrer, der sie ins Hotel zurückbrachte. Mit dem Skilaufen war es bis auf weiteres vorbei. Sie lag mit fest gewickeltem Knöchel im Liegestuhl auf der Hotelterrasse und hatte Zeit genug für den zweiten Programmpunkt ihrer Ferien: die Wahl zwischen Björn und Steffen. Sie beschloss, eine Liste aufzustellen.
Steffen: dunkelhaarig, gutaussehend, zuverlässig, kinderlieb, sportlich, neunundzwanzig Jahre alt und ihr Chef. Sie arbeitete als Grafikerin in seiner Werbeagentur.
Björn: dunkelhaarig, gutaussehend, zuverlässig, kinderlieb, sportlich, achtundzwanzig Jahre alt, Ingenieur und seit Kindertagen ihr Beschützer.
Eine Spur zu dominant, fügte sie bei beiden hinzu.
Und noch eine Gemeinsamkeit gab es: Beide wollten sie heiraten.
Sie starrte auf die Liste und war so ratlos wie vorher. Sie mochte beide, wollte keinem von ihnen weh tun …
Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. Sie hob den Kopf und sah in ein sympathisches Männergesicht. Es war der ungeschickte Skiläufer von heute Morgen. Er deutete eine leichte Verbeugung an und sagte: „Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen geht. Entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Ich heisse Paul. Paul Möller.“
Sie gab sein Lächeln zurück: „Danke, wenn ich den Fuss nicht bewege, tut er nicht weh. Und ich bin Nina Vogt.“
Paul Möller zögerte, dann fragte er: „Hätten Sie Lust auf Kaffee und Kuchen?“
Nina merkte plötzlich, dass sie Hunger hatte. Vor lauter Aufregung hatte sie nicht zu Mittag gegessen.
„Gern“, nickte sie.
Fünf Minuten später brachte eine Serviererin den Kaffee und zwei Tortenstücke. Paul schenkte umsichtig ein und sagte: „Es tut mir so leid, das mit dem Unfall heute Morgen.“
„Sie brauchen sich nicht schuldig zu fühlen. Mein verknackster Knöchel hat ja nichts mit unserem etwas heftigen Zusammentreffen zu tun.“
„Trotzdem. Wenn ich Ihnen helfen kann, bitte, sagen Sie Bescheid. Ich wohne in der Pension nebenan. Hier ist die Telefonnummer.“
Sie nahm die Karte mit der Telefonnummer, versicherte ihm aber, dass sie ganz gut auch so zurechtkäme und beugte sich vor, um nach dem Kuchenteller zu greifen. Dabei fiel ihr Blatt mit den Notizen zu Boden. Rasch bückte sich Paul und hob es auf.
Obwohl er keinen Blick darauf geworfen hatte, fühlte Nina sich bemüssigt, eine Erklärung abzugeben. „Ich … ich stehe vor einer schwierigen Entscheidung“, stotterte sie. „Zwei Männer möchten mich heiraten, und ich weiss nicht, wen ich wählen soll.“
„Warum wollen Sie denn unbedingt heiraten?“
„Nun ja, meine Eltern liegen mir ständig in den Ohren, dass es mit 27 Jahren an der Zeit wäre, eine Familie zu gründen.“
„So einen Unsinn habe ich noch nie gehört“, erwiderte er schroff.
Sie war verletzt. „Sie wünschen sich Enkelkinder. Ich bin ein Einzelkind, müssen Sie wissen.“
Er trank einen Schluck Kaffee und fragte: „Hören Sie in Ihrem Alter immer noch auf Ihre Eltern? Können Sie sich keine eigene Meinung bilden?“
Das war ja wohl die Höhe! Zuerst rannte dieser gemeingefährliche Skiläufer sie um, und jetzt kritisierte er sie auch noch. Warum hatte sie ihm bloss von Steffen und Björn erzählt?
Er fuhr fort: „Wenn Sie sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden können, bedeutet das doch eigentlich, dass sie keinen von beiden lieben.“
Das reichte. Zornig funkelte sie ihn an: „Dann verraten Sie mir doch mal, was Liebe ist!“
Er sah auf die verschneiten Berge ringsumher und antwortete leise: „Liebe ist, wenn man genau weiss: Es ist dieser Mensch und kein anderer. Wenn man den Wunsch hat, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen und bis ans Lebensende zusammenzubleiben.“
„Sind Sie denn einer solchen Liebe begegnet?“ fragte sie nach einer Weile.
Er nickte: „Ja, doch was nützt das? Heute sind wir geschieden.“
„Das tut mir leid“, erwiderte Nina betroffen.
„Es war meine Schuld. Ich war jahrelang damit beschäftigt, meine Firma für Software aufzubauen. Eines Tages war Franziska es leid, dass ich nie zu Hause war. Sie hat einen anderen Mann kennengelernt und ist heute mit ihm verheiratet.“
Er erhob sich und reichte ihr die Hand: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie die richtige Entscheidung treffen.“
Als er ging, war er wütend auf sich selbst: Wie kam er überhaupt dazu, diese Frau zu kritisieren und ihr Ratschläge zu erteilen? Er selbst hatte doch auch alles falsch gemacht!
In seinem Pensionszimmer vergrub er seinen Kopf in beide Hände. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er Ninas Gesicht vor sich: ihren weichen Mund, die ausdrucksvollen dunklen Augen, das kurz geschnittene, kastanienbraune Haar. Und sie war nicht nur äusserlich schön - auch charakterlich, das spürte er. Kein Wunder, dass zwei Männer sie liebten. Aber war es wirklich Liebe? Oder nur ein Wettkampf? Egal, das alles ging ihn nichts an. Was die Liebe betraf, so hatte er seine Chance gehabt - und sie vertan. Es war zwei Jahre her, dass Franziska ihn verlassen hatte, und seitdem betäubte er sich mit immer mehr Arbeit. Es waren die ersten Ferien, die er seitdem machte. Und auch nur, weil sein Arzt der Ansicht gewesen war, dass die Bergluft ihm gut tun würde. Er für sein Teil zog das Meer vor …
Schliesslich gab Paul sich einen Ruck, stand auf und fing an, seine Tasche zu packen. Am besten reiste er sofort ab. Noch einmal Herzweh? Nein danke!
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Nina hatte sich seufzend wieder ihrer Liste zugewandt. Plötzlich kam ihr diese Aufstellung von Fakten und Charaktereigenschaften albern vor. Warum war es ihr unmöglich, mit dem Herzen zu entscheiden? Hatte Paul recht? Liebte sie keinen von beiden?
Ein roter Wagen fuhr auf den Parkplatz des Hotels. Sie hätte schwören können, dass es Steffens Auto war - aber er wusste doch nicht, wo sie war!
Es war tatsächlich Steffen. Als er sie auf der Terrasse entdeckte, kam er mit langen Schritten auf sie zu. Sie hatte gerade noch Zeit, die dumme Liste in der Tasche ihres Anoraks verschwinden zu lassen.
„Nina, ich muss dich sprechen“, stiess er hervor.
„Wer hat dir denn verraten, dass ich hier bin?“
„Deine Mutter. Was hast du mit deinem Fuss gemacht?“
„Verstaucht. Beim Skilaufen.“
„Das musste ja passieren. Warum bist du nur allein gefahren?“
„Um nachzudenken. Das hatte ich dir doch gesagt“, entgegnete sie unwillig.
„Nina, ich begreife einfach nicht, was du an diesem Björn findest. Du wirst dich mit ihm zu Tode langweilen. Ein Technokrat, der sich noch dazu für einen guten Sportler hält! Der gibt doch an wie ein Wald voller Affen. Ich hab ihn mal beim Skilaufen gesehen. Zum Totlachen!“
Sie kam nicht mehr dazu, ihm vorzuhalten, dass er selbst zu leichten Übertreibungen neigte, denn ein zweiter Wagen fuhr vor - und Björn stieg aus.
„Und woher weisst du, dass ich hier bin?“ fragte Nina ärgerlich, als er vor ihnen stand.
„Dein Vater“, antwortete er knapp.
Sie hätte es sich denken können. Björn war der Favorit ihres Vaters, Steffen der ihrer Mutter. Sie würde mit ihren Eltern reden müssen. Es ging wirklich nicht, dass die sich derart in ihre Herzensangelegenheiten einmischten!
Ohne Nina weiter zu beachten, wandte Björn sich an Steffen: „Na gut, da wir uns schon hier treffen, lassen Sie uns die Sache ein - für allemal klarstellen: Ich kenne Nina länger als Sie, ich habe die älteren Rechte!“
„Aber mich liebt sie, und wenn Sie nur einen Funken Verstand hätten, würden Sie sich zurückziehen!“
Mit roten Gesichtern standen sie sich gegenüber, waren drauf und dran, mit Fäusten aufeinander loszugehen. Schon eilte voller Besorgnis ein Keller herbei.
„Halt“, rief da Nina, „ich habe mich entschieden!“
Sofort hielten die Streithähne ein und wandten sich ihr zu.
Leise sagte sie: „Ich kann keinen von euch heiraten. Ich habe geglaubt, euch beide zu lieben, weil ich das so gern wollte, aber es stimmt nicht. Jedenfalls liebe ich keinen von euch genug, um ihn zu heiraten. Könnt ihr das verstehen?“ Sie sah ihre beiden Freunde bekümmert an, und gleichzeitig fühlte sie sich wie von einer schweren Last befreit. Sie fragte sich, warum sie auf einmal das Gesicht von Paul vor sich sah. Ausgerechnet in diesem Augenblick …
Steffen fing sich als erster: „Bist du sicher?“
„Ganz sicher.“
Er schluckte. Die Enttäuschung war ihm anzumerken, aber er reagierte fair: „Also dann … bis bald, in der Agentur. Pass gut auf dich auf.“
Björn grinste schief: „Wir haben uns wohl ziemlich dumm benommen“, gab er zu. „Bis bald, Kleines. Was ist denn mit deinem Fuss los? Ein Skiunfall? Du hättest nicht allein fahren sollen.“ Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn: „Willst du nicht lieber mit uns zurückkommen?“
„Nein“, lächelte Nina. „Macht euch um mich nur keine Sorgen, ich komme schon zurecht.“ Nachdenklich fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich bin heute endlich erwachsen geworden.“
Abends führte der Ober Nina an den einzigen Tisch des hoteleigenen Restaurants, an dem noch ein Platz frei war. An dem Tisch sass schon ein Mann. Es war Paul!
Sie errötete, als sie ihn erkannte. Er stand auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Der Ober reichte ihr die Karte.
Sie wählte ein Menü und einen leichten Wein.
„Für mich das gleiche, bitte“, sagte Paul.
Nina war verwirrt: „Oh, ich dachte, Sie hätten schon bestellt.”
„Ich habe auf dich gewartet“, erklärte er.
Später einmal würde er ihr erzählen, dass er nach zehn Kilometern Fahrt gewendet hatte und zurückgekommen war - und das nicht nur, weil er sie mit ihrer Verletzung nicht allein lassen wollte. Dass er dann einen langen Spaziergang gemacht hatte, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Diesmal, das wusste er jetzt, würde ihm die Liebe wichtiger sein als der berufliche Erfolg. Wenn Nina ihn nur wollte …
Leise sagte sie: „Ich habe mich entschieden, Paul. Ich heirate keinen von beiden.“
Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich floss alles Blut zu Ninas Herzen. Das also ist die Liebe, dachte sie überwältigt. Denn diesmal gab es nicht den geringsten Zweifel mehr: Sie war dem Mann ihres Lebens begegnet …
ENDE