Entrückt in eine andere Welt

ARTus-Kolumne  »SO GESEHEN« 614 • 16. März 2013

von Walter G. Goes (Bergen/Rügen)

Als das Buch Walter Jens / Reden 1989 in der DDR erschien, übrigens als Band 89(!) in der schönen, sehr lesens- und oft genug das Nachdenken befördernden  Reihe der Gustav Kiepenheuer Bücherei Leipzig und Weimar, hatten sich Bürger der DDR gerade die Rede als öffentliche, ungeschminkte, lautere Rede erobert. Man redete immer mehr ungefragt und trotzig, mit dem Mut der Verzweifelten und nun nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand über nicht mehr weg zu diskutierende Defizite und Missstände einer sich in Agonie befindlichen Gesellschaft.

So gesehen und gehört erlebte man einen Redefrühling im Herbst, fand Podien für eigene Reden in Kirchen, plötzlich auch auf öffentlichen Plätzen. Ich erinnere mich bis heute gern dieser Zeit des Einklagens von Rechten, die lange, viel zu lange als Tabus in unserem Denken verankert blieben.

Historische Rückblicke und aktuelle Zustände öffneten Bürgerbewegten damals die Augen. Die Französische Revolution und ihre Errungenschaften auf dem Gebiet der Rede- und Pressefreiheit waren nach über 200 Jahren endlich wieder ein Thema. Und… Bücher, die den Finger in noch akute Wunden legten, welche die Bedeutung eines längst überfälligen, öffentlichen Rekurses anmahnten.

Dazu gehörten ganz besonders Bücher und Reden des Rhetorikers und Autors Walter Jens.

Von seinem unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und Stalinismus entstandenen Roman Nein. Die Welt der Angeklagten, bei dem es um die Rebellion gegenüber jedweder Form totalitärer Machtausübung geht, hatte man gehört. Gehört hatte man aber auch von der Sprengkraft seiner Reden (»Herrscht das Volk, regiert die Rede; herrscht Despotismus, dann regiert der Trommelwirbel…«, die viele Menschen zur eigenen Rede ermutigten.

Seit 2004 ist Walter Jens in einer anderen Welt, in der wir ihn mit Worten nicht mehr erreichen; in der ihm Worte nicht mehr einfallen und Reden schweigen.

Welche Tragik für diesen wunderbaren Menschen, dessen Worte und Reden unvergessen bleiben werden. ARTus

ARTUS-Z. 614 (JENS)



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