Englands verlorene Schlösserwelt – Zu Besuch in Castle Howard

Von Feder

Märchenhafte Schlosskulissen, labyrinthartig angelegte Gärten, sonnendurchflutete Alleen. Kein anderes Land ist so berühmt für seine schillernden adligen Landsitze wie England. Und dennoch täuscht deren romantisches Antlitz über die Tragik ihrer eigentlichen Geschichte hinweg. Denn ihre Zahl ist längst nicht mehr so hoch wie einst. Tausende solcher Anwesen sind bereits verschwunden. Ihre Steine und architektonischen Raffinessen zieren längst andere Gebäude oder wurden dem Erdboden gleichgemacht.

Was sich in den letzten Episoden der bekannten Fernsehserie „Downton Abbey“ andeutet ist leider keine Erfindung der Unterhaltungsindustrie. Der schleichende Verfall der englischen Landhäuser begann Ende des 19. Jahrhunderts als die Einkommenssteuern stiegen und die Landwirtschaft, von denen sich die Herrenhäuser ernährten, immer weniger abwarf und mehr und mehr von der modernen Industrie verdrängt wurde. Um ihre Anwesen zu erhalten, mussten sich die Eigentümer nach neuen Einkommensquellen umsehen und versuchten ihr Glück meist im Bankgeschäft oder Handel. Andere suchten durch Einheirat in wohlhabende Familien ihre Grundstücke und den gewohnten Lebensstandard zu sichern.

Die zwei Weltkriege versetzten vielen Landhäusern allerdings einen Dolchstoß, von dem sie sich kaum erholen konnten. Ein Großteil des Personals, das für die Erhaltung der riesigen Anwesen vonnöten war, war entweder im Krieg gestorben oder fand nun weitaus besser bezahlte Jobs in den Städten. Höhere Bildungschancen ließen zudem viele der ehemaligen Bediensteten nach dem lang ersehnten sozialen Aufstieg streben. Viele Landbesitzer hatten ihre Erben im Krieg verloren und mussten nun die immens gestiegenen Erbschaftssteuern selbst tragen, während ihnen das Personal davonlief und ihr Einkommen aus landwirtschaftlicher Tätigkeit immer kärglicher ausfiel. Zudem befanden sich viele Gebäude durch Zerstörungen und Zweckentfremdungen während der Kriege in schlechtem Zustand. Für zwei Jahrzehnte gab es von Regierungsseite Restriktionen für private Baumaßnahmen, da der Wiederaufbau des Landes sämtliche Kapazitäten erforderte. Eine neue Ära war angebrochen, die das nach traditionellen Mustern geschnürte Korsett der Standesgesellschaft abzuwerfen suchte und auch mit deren Symbolen brach.

Schließlich blieb vielen Eigentümern nur der Schritt, ihr Anwesen gegen den Meistbietenden zu veräußern oder nach und nach abzutragen und alles Stein um Stein zu verkaufen. Im Jahr 1955 wurde alle fünf Tage auf diese Weise ein englisches Herrenhaus zerstört. Andere wiederum stellten es dem Staatswohl zur Verfügung. So sind viele der einstigen Familienstammsitze heute Hotels, Schulen, Krankenhäuser, Museen oder sogar Gefängnisse. Erst seit den 1960er Jahren erkannte die Öffentlichkeit den Wert dieser Häuser für die nationale Geschichte an und mehrere Gesetzesinitiativen schafften es schließlich, deren fortschreitenden Verlust aufzuhalten. Doch bis heute bleiben die englische Schlösser und Herrenhäuser bedroht, denn hohe Restaurations- und Instandhaltungskosten fordern weiterhin ihren Tribut.

Die noch erhaltenen Häuser haben längst eine neue Einkommensquelle generiert und  ihre Pforten für eine zahlungskräftige Öffentlichkeit aufgesperrt. 40 Kilometer nördlich von York liegt eines dieser prächtigen Landsitze des englischen Barock: Castle Howard. Der monumentale Herrensitz, der stark an das preußische Sanssoucci erinnert, wurde von Sir John Vanbrugh (1664 – 1726) entworfen und zwischen 1699 and 1712 für Charles Howard (1669 –  1738), den 3. Earl of Carlisle, erbaut. Vanbrugh war übrigens nicht nur ein talentierter Baumeister, sondern auch ein fortschrittlicher Dramatiker. Allerdings waren seine meist anzüglichen Bühnenstücke, in denen er sich mitunter für die Rechte verheirateter Frauen einsetzte, mehr als verpönt, denn sie verstießen eindeutig gegen die gesellschaftliche Konvention seiner Zeit.

Heute lebt bereits die zehnte Generation der Howard Familie in diesen Gemäuern, das über insgesamt 145 Räume verfügt. Viele der den Besuchern zugänglichen Zimmer werden bis heute als Gästeunterkünfte vermietet und von der Familie genutzt. Und das sieht man den gut gepflegten Möbeln und Gebrauchsgegenständen auch an. In allen Räumen stehen frische Schnittblumen bereit und Familienporträts zieren Anrichten und Tische. Anders als in deutschen Museen, in denen die Hauptaufgabe von Museumswärtern vor allem darin besteht, die Besucher mit finsterer Mine zu ermahnen, ja nicht die wertvolle Inneneinrichtung mit ihren Schmierfingern zu berühren, ist hier wieder mal englische Liebenswürdigkeit an der Tagesordnung. Die Museumswärter hier sind äußerst gut aufgelegt, scherzen und geben ganz von sich aus herzhafte Anekdoten zum Besten. Ein älterer Herr erklärt mir in feinstem Britisch, dass mein kurzes Röckchen ja ganz verzückend sei, eine „Dame von Qualität“ in aller Öffentlichkeit allerdings nie ihren Knöchel zeigte, wenn sie den langen Gang zur Bibliothek auf- und abflanierte. Eine der Wärterinnen ist sogar eine deutsche Ärztin, die ihren Job aufgab, um nun neugierige Hobbyhistoriker mit charmantem Insiderwissen durch die geweihten Hallen zu geleiten.

Das Schloss birgt eine beeindruckende Sammlung kostbarer Gemälde und faszinierender antiker Skulpturen. Der besondere Charme des Gebäudes erklärt wie von selbst, warum es gleich in mehreren Produktionen als Filmkulisse diente, deren bekannteste die 1981 gedrehte Fernsehserie „Brideshead Revisited“ ist, die 2008 in einer kürzeren Kinofassung neu aufgelegt wurde.

Aber nicht nur das verwinkelte Gebäude an sich ist sehenswert, auch die umliegenden Gärten und Parks bieten mit ihren blühenden Pflanzenoasen, Wasserfällen und Springbrunnen, in denen sich an diesem Tag glitzernde Regenbögen spiegeln, auf mehreren tausend Hektar erstaunliche Kulissen, die zum gemächlichen Schlendern und Picknicken einladen. Eingebettet in die malerische Landschaft der umgebenden Howardian Hills liegen noch drei weitere Gebäude, die allerdings für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Hierzu gehören das Familien-Mausoleum, der Tempel der vier Winde und eine mysteriöse Pyramide, in der sich eine gigantische Büste des Familienstammvaters befinden soll.

Der Besuch in Castle Howard lässt mich ein wenig nachdenklich werden, denn dieses Monument einer einst so lebendigen Epoche erinnert mich daran, wie viele Zeugnisse unserer Vergangenheit für immer verloren sind, weil sie als Symbole einer verachteten Zeit nicht für bewahrenswert befunden oder im Eifer revolutionärer Momententscheidungen beseitigt wurden. Zum Glück wurde diese Entwicklung im Falle der englischen Herrenhäuser rechtzeitig aufgehalten. Ihr Schicksal aber wirft die Frage auf, ob ein verantwortungsvoller Umgang mit der Geschichte nicht die Relikte aller Seiten gleichermaßen bewahren muss, die angenehmen genauso wie die unangenehmen.

Warst du schon mal zu Besuch in einem englischen Landsitz? Oder kannst du einen dieser Orte besonders empfehlen? Was hat dich daran besonders fasziniert oder interessiert?

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