Wenn man so wie ich auf einem englischen Dörfchen wohnt und immernoch kein eigenes Fahrzeug besitzt, ist man wohl oder übel auf Bus und Bahn angewiesen. Bisher war ich genau deshalb kein allzu großer Fan von Tagesausflügen. Egal wohin ich meinen Finger auf der Landkarte auch richte, an jeden interessanten Ort brauche ich mindestens drei Stunden, muss mehrere Male umsteigen und dafür auch noch teuer bezahlen. Verlockend klang das nie, aber die Zeiten ändern sich. Als mich meine Freundin Isabell letztens fragte, ob ich nicht Lust hätte mit ihr gemeinsam am nächsten Samstag nach Chester zu fahren, bin ich Feuer und Flamme. Über Chester habe ich bisher nur Gutes gehört, denke dabei zum Beispiel an den berühmten Käse aus dem Aldi. Ich sage spontan zu und kaufe einen Stapel von sechs Fahrscheinen inklusive Sitzreservierungen. Als ich mir den jedoch genauer ansehe, stelle ich fest, dass ich für eine halbstündige Teilstrecke nach Manchester in der ersten Klasse sitze. Ich vermute, dass ich mal wieder aus Versehen eine falsche Box angetickt habe und ärgere mich, erfahre aber später, dass man manchmal dabei sogar wirklich günstiger fährt. So ganz erschließt sich mir diese Logik zwar nicht, aber ich genieße die Fahrt in den lila Plüschsitzen schon ungemein, während sich das gemeine Fußvolk im hinteren Waggon zusammenpfercht.
Ab Manchester Piccadilly allerdings hat der Spaß ein Ende und ich steige um in einen überfüllten Zug Richtung Wales, denn Chester liegt unweit der Grenze. Da am Montag Feiertag ist, nutzen autolose Engländer den öffentlichen Nahverkehr, um darin Kinder, Koffer und Haustiere zu einem verlängerten Wochenendurlaub zu transportieren. Kaum habe ich mich auf den erstbesten Sitz fallenlassen, weist mich auch schon eine Dame darauf hin, dass sie ebendiesen reserviert hat, wenn ich dann so freundlich wäre aufzustehen. Zum Glück ist der Platz vor mir frei, auch wenn ich mir diesen mit einem stark übergewichtigen Waliser teilen muss, der einen ganzen Corner Shop an Snacks dabeihat. Nur eine halbe Stunde später steigen drei ältere Damen ein und da ich keine Zeitung dabeihabe, um mich dahinter geschickt aus der Affäre zu ziehen, springe ich notgedrungen auf und biete meinen Platz feil. Im Gang finde ich eine winzige Lücke und blicke mich nach einem Zeitvertreib um. Neben mir lächelt ein älterer Herr zufrieden ins Gemenge. Ich spreche ihn an, denn eines habe ich hier im Norden gelernt: Wer zuerst losquatscht bestimmt die Thematik, denn dass man angequatscht wird, steht fest. Ob er aus Wales sei, will ich wissen und erhoffe mir eine kleine kostenfreie Landeskunde. Doch Andy stammt aus einem Dorf in der Nähe von York und versteht kein Wort Walisisch. Er ist selbstständiger Bauunternehmer und gerade geschäftlich unterwegs. Wofür denn Chester so berühmt sei, frage ich ihn und erhalte wieder mal eine typisch britische Auskunft: „Es gibt viele tolle Pubs da.“ Na war ja klar.
Aber ich will mir eh die Spannung nicht verderben, denn wenig später hält der Zug an meiner Endstation und ich wünsche Andy händeschüttelnd eine gute Weiterfahrt. Isabell, die von Bradford aus den Bus genommen hat, wartet bereits im Stadtzentrum auf mich. Im Kiosk erwerbe ich noch schnell einen Stadtplan und mache mich auf den Weg. Ich folge der Hauptstraße an hübschen Wohnhauszeilen und mächtigen Mühlenbauten vorbei bis ich an einer Schönheitsklinik vorbei ins Zentrum abbiege. Und hier fallen mir fast die Augen heraus. Dass Chester ganz nett sei habe ich ja schon gehört, aber das hier übertrifft meine Erwartungen bei Weitem. Ein hübsch dekoriertes Fachwerkhäuschen nach dem anderen reiht sich an der von Menschenmengen überfüllten Eastgate Street entlang.
In den zweistöckigen Gallerien und überdachten Passagen, auch Rows genannt, laden Pubs, Cafés, Restaurants, Shops, Friseure, Süßwaren- und Delikatessengeschäfte zum Stöbern und Verweilen ein. Ich bin komplett überfordert von der mehr als malerischen Stadtsilhouette, die mich an norddeutsche Metropolen wie Braunschweig oder Wismar erinnert und vergesse beinah meine Verabredung. Erst als ich die gigantische, vergoldete Uhr erblicke, die auf einem steinernen Tor über dem bunten Getümmel aus Ausflüglern, Straßenmusikanten und Bauchladenträgern thront, erinnere ich mich wieder daran. Die Eastgate Clock, die 1899 anlässlich des diamantenen Thronjubiläums von Queen Victoria errichtet worden war, ist angeblich das am zweithäufigsten fotografierte Wahrzeichen nach Big Ben.
Nachdem ich eine ganze Stunde gebraucht habe, um auf meinem Stadtplan endlich durchzublicken, treffe ich Isabell vor der Stadthalle. Knapp fünf Stunden schlendern wir durch die Gassen Chesters, an dessen Reizen ich mich einfach nicht sattsehen kann und von dessen Geschichte ich zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nichts weiß.
79 nach Cristi wurde Chester als römische Festung gegen die Kelten unter dem Namen Deva gegründet. Die strategisch günstige Lage im Herzen Britanniens auf einem Hang in der Nähe des Flusses Dee lässt Historiker vermuten, dass damals nicht London, sondern Chester dessen Hauptstadt war. Außerdem war die Stadt, die über einen Hafen verfügte, ein bedeutendes Handelszentrum und damals bereits beliebter Umschlagplatz für den Chester Käse, der bis heute ein wichtiges Wirtschaftsgut darstellt, allerdings nicht geschützt ist und daher allerorts in der Welt produziert werden kann.
Als die Römer die Insel nach 410 n. Chr. verließen, übernahmen zunächst die Britannier selbst, dann die Angelsachsen die Festung und verstärkten deren Wälle gegen die seit dem 8. Jahrhundert einfallenden Wikinger. Die Stadtmauer gehört noch heute zu den am besten erhaltenen in ganz England. Bis auf zwei Unterbrechungen kann man darauf die gesamte Stadt umrunden. Im Zuge der normannischen Eroberung nach 1066 wurden große Teile der Stadt zerstört. Gleichzeitig aber errichteten die Normannen neue Anlagen wie Chester Castle und die Chester Cathedral und nutzten die Stadt als Ausgangspunkt für ihre Feldzüge nach Wales. Im Mittelalter entwickelte sich Chester zum größten Binnenhafen Europas und der Wohlstand wuchs. Doch als der Fluss schließlich versandete, fand auch der Seehandel ein Ende, der sich mehr und mehr nach Liverpool verlagerte. Auf dem ehemaligen Hafen befindet sich heute eine Rennbahn, auf der nur noch ein Steinkreuz, das damals als Wasserstandspegel genutzt wurde, an die einstige Seehandelsmacht erinnert.
Während der victorianischen Ära und der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert gelangte Chester zu neuem Wohlstand als Rückzugs- und Lebensort der Oberschicht, die viel in die Pflege und das Erscheinungsbild der Stadt investierte. Die Fachwerkhäuser stammen also gar nicht aus dem Mittelalter, wie man annehmen könnte, sondern sind ein Produkt der viktorianischen Architektur, die dem Historismus verschrieben war. Der größte Teil der Stadt ist heute im Besitz des Duke of Westminster, einem der reichsten Männer Großbritanniens. Dessen Familienname Grosvenor taucht in der Stadt mehrmals auf, zum Beispiel als Teil von Straßen- oder Gebäudenamen.
Und was gibt es noch so zu sehen in Chester? Nun, den Zoo haben wir mal geflissentlich weggelassen, auch wenn dieser einer der größten in ganz England ist. Wer Tiere eher in freier Wildbahn erleben möchte, dem sei Grosvenor Park sehr ans Herz gelegt. Zumindest lassen sich hier freche Grauhörnchen beim Herumtollen und fleißigem Leckereien Umdisponieren beobachten. Kulturell lohnt sich mit Sicherheit auch ein Blick ins Grosvenor Museum, das sich mit der Geschichte der Stadt befasst oder ein Besuch in der Chester Cathedral, wo man eines der längsten Querschiffe Englands bewundern kann.
Außerdem ist die Stadt bekannt für ihre zahllosen Spuk- und Geistergeschichten. Poltergeister, ruhelose Gestalten und finstere Schattenfiguren aus der Vergangenheit. Sie alle schleichen nach Anbruch der Dunkelheit durch Gasthäuser und dunkle Straßenecken, um Nachteulen das Gruseln zu lehren. Chester gilt daher auch als unheimlichste Stadt in England.
In fünf Stunden schaffen wir es zwar nicht, alle Sehenswürdigkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen, aber der Kurztrip nach Chester war allein aus ästhetischen Gründen definitiv die lange Anreise wert.
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Wo liegt Chester?
Chester liegt in der nordwestenglischen Grafschaft Cheshire, direkt an der Grenze zu Nordwales, und ist mit dem Zug oder Auto von Birmingham, Manchester und Liverpool aus gut zu erreichen.