Da denkt man, so eine mehrtägige Wanderung lässt sich doch ganz gut planen und dann haut einem die Natur einfach mal ein paar Knüppel zwischen die Beine. Die ganze Nacht hindurch quält mich ein vertrautes, schmerzhaftes Ziehen im Bauch. Aber diesmal kriegt mich die biologische Uhr nicht klein. Der weibliche Zyklus kann mich jetzt mal. Ich werde nicht hinschmeißen, auch wenn ich weiß, dass die letzten Meilen mit Bauchkrämpfen und Erschlagenheit nicht so unbeschwert vonstatten gehen werden, wie ich mir das eigentlich erhofft hatte. Selbst wenn ich jetzt einfach nach Hause fahren wollte, in diesem Ort gibt es, soweit ich weiß, noch nicht mal einen Bus und ein Taxi würde ich so schnell vermutlich auch nicht organisieren können. Ich schlucke also ein paar Pillen und mache mich um 6.30 Uhr mit verquollener Miene auf den Weg. Bevor die Schmerzen am Nachmittag ihren Höhepunkt erreichen, will ich versuchen, schon im Zug Richtung Heimat zu sitzen. Also lege ich an meinem letzten Tag auf dem Wolds Way einen gehörigen Zahn zu.
Doch schon bald bremse ich mehrere Male ab. Denn ich bemerke mit Freuden, dass so früh am Morgen recht viele Lebewesen unterwegs sind, die ich später am Tag oft nicht mehr zu Gesicht bekomme. Auf dem von hohen Hecken begrenzten Pfad sichte ich eine Gruppe junger Rehe, die sich wenige Meter von mir entfernt zum Brunch versammelt haben. Sie knabbern friedlich an Gräsern und Sträuchern und ich schäme mich etwas, dass ich ihre morgendliche Frühstucksrunde stören muss. Ich nähere mich so lautlos wie möglich, aber mein Rucksack quietscht und meine Füße rascheln durch trockenes Gras. Als ich mein Handy zücke, um die grazilen Gefährten einzufangen, sprinten sie aufgebracht durch das Gebüsch davon. Schade! Vergeblich versuche ich die drei Rehe an der Stelle ausfindig zu machen, an der sie durch eine Lücke in der Hecke verschwunden sind, aber sie sind längst auf und davon.
Auch heute führt der Weg ein letztes Mal an endlosen Getreidefeldern vorüber. Aber anders als zuvor bergen sie heute eine Überraschung, die mir fast das Herz stehenlässt. Alle paar hundert Meter schießt ein mopsiger brauner Vogel nach dem anderen aus dem Korn. Laut kreischend und so plötzlich, dass ich jedes Mal einen Riesenschrecken bekomme und im Schock zurückzucke. Bei den aufgeregt aus dem Untergrund aufschießenden Kreaturen handelt es sich um Wachtelkönige (engl. corncrake), die auch Wiesenralle oder Wiesenknarrer genannt werden. Wenn sie so vor mir auf dem Pfad hin- und herwuseln erinnern sie mich stark an meine geliebten Moorhühner, mit denen sie verwandt sind und die ja ähnliche Panikmacher sind.
An bedrohliche Geräusche habe ich mich von Beginn an auf dem Wolds Way gewöhnen müssen. In regelmäßigen Abständen schallt ein dumpfer Knall über die Felder. Zuerst habe ich mich vor Schreck regelmäßig in Deckung gebracht, mir dann aber meine eigene Theorie zusammengereimt, die dann später von Einheimischen bestätigt wurde. Demnach waren es keine Waffennarren, die sich im Gebüsch versteckten, um dann mit scharfer Munition auf Feld und Wiesen herumzuballern. Nein, die Bauern nutzen propangasbetriebene Vogelschreck-Kanonen, um Krähen und sonstige Korndiebe abzuwehren. Die üblichen Vogelscheuchen sind wohl aus der Mode gekommen bzw. werden die Vögel wohl auch irgendwann mal geschnallt haben, dass man sie nur aufs Korn nehmen will (haha).
Als ich noch in Berlin gelebt habe, habe ich mich nie sonderlich für Vögel interessiert. Ihre Anwesenheit war für mich ganz selbstverständlich und nie besonders bemerkenswert. Das hat sich schlagartig geändert, seit ich in England lebe. Es ist zwar nicht so, dass ich ständig aufgeregt mit dem Fernglas umherlaufe,Vogelarten benenne und dabei spezifische Zwitschergeräusche nachahme, aber ich nehme sie viel aufmerksamer wahr. Ich freue mich, wenn Drosseln, Rotkehlchen und Blaumeisen in unserem Garten auftauchen, beobachte gern den Flug von Bussarden und finde es drollig, wie die Bachstelzen mit ihrem Schwänzchen wackeln und das Zwitschern der Feldlerchen gehört für mich einfach zum Sommer dazu. Meine Augen haben sich der Vielfalt geöffnet und ich glaube, ich sehe jetzt viel genauer hin, nehme meine Umwelt viel schärfer wahr in all ihren Nuancen. Dafür bin ich jedes Mal dankbar, wenn ich auf Wanderschaft bin. Es ist eine Sache, eine Brille mit der richtigen Sehstärke zu tragen, wenn man nicht wirklich hinsehen kann, bleibt einem dennoch Vieles verborgen. Wirklich hinsehen ist eine Kunst, die sich erlernen lässt. Auch ich stecke noch mitten in diesem Prozess.
Manchmal aber möchte man gewisse Dinge auch nicht wirklich sehen bzw. wahrhaben. So wie ich, als ich das nächste umzäunte Ackerland erreiche. Eine Herde wunderschöner, aber auch aufdringlicher Kühe erwartet mich neugierig am Gatter, hinter dem der Wolds Way weiterführt. Eine der Damen reckt ihren Kopf über den Zaun und mich überkommt das Verlangen, über ihren schwarzen, im Sonnenlicht seidig glänzenden Kopf zu streicheln. Doch ich habe keine Ahnung, ob sich eine Kuh einfach so streicheln lässt. Immerhin verfügt sie ja auch über ein paar kleine Beißerchen, die sicher gut zuschnappen können. Obwohl sie zuckersüß blinzeln kann, reiße ich mich am Riemen und tue, was ich tun muss: Ich nehme meinen Mut zusammen und bahne mir einen Weg durch die Herde.
Inzwischen habe ich zu Kühen ein durch und durch herzliches Verhältnis, was mitunter auch daran liegt, dass mir neulich ein Buch in die Hände fiel, das mir einen tiefen Einblick in die Seele dieser gutmütigen Tiere verliehen hat: „The Secret Life of Cows“ von Rosamund Young. Übrigens ist die Sparte Nature Writing, also das Schreiben über die Natur, hier in England extrem groß. In den Auslagen der Buchläden zeigt sich, wie stark die Verbundenheit zur Umwelt in diesem Land ist, zumindest literarisch. Es gibt unglaublich tolle und viele hochspannende und zugleich sehr unterhaltsame Bücher zu diesem Thema. Eine wirklich überwältigende Auswahl!
Bei Staxton passiere ich eine der ältesten Radarstationen der Welt, die noch in Betrieb ist. Das Gelände ist mit rasierklingenscharfem Stacheldraht umzäunt. Kurz überlege ich, ob ich in die Überwachungskamera winken soll, die über dem Eingangstor befestigt ist. Doch die riesigen Warnschilder, die das unbefugte Betreten der Anlage aufs Strengste untersagen, bewirken, dass ich mich lieber auf der anderen Straßenseite fortbewege. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. bestand hier bereits eine Frühwarnstation in Form eines von den Römern errichteten Leuchtfeuers. In den 1930er Jahren, als der Krieg mit Deutschland unvermeidlich schien, richtete die Regierung ein Netzwerk von 16 Radarbasen ein, um die Luftwaffe in Schach zu halten und feindliche Flugzeuge zu zerstören. Auf dem Höhepunkt der Luftschlacht um England im Jahr 1940 war Staxton Wold damit beschäftigt, möglichen deutschen Angriffen in der Luft entgegenzuwirken. Heute ist es die einzige der ursprünglich 16 Radarstationen, die noch in Betrieb ist.
Ein letztes Mal durchstreife ich die hüfthohen Mohnfelder der Wolds und dann tauchen vor mir die Kreidefelsen der Ostküste auf. Dahinter glitzert die Nordsee, weit und rau im Mittagslicht.
Als ich Filey erreiche, bin ich erstmal überfordert. Schwärme von gut genährten Urlaubern und Touristen in Plastiksandalen bevölkern die Straßen der Küstenstadt. Vor den Fish & Chips-Läden haben sich lange Schlangen gebildet. Hungrige Augen blicken ungeduldig auf die öligen Leiber panierter Schellfische, die nach und nach aus der Fritteuse gezogen werden. Mit meinem riesigen Rucksack kämpfe ich mich zur leergefegten Strandpromenade vor. Vorbei an Geschäften, die Schwimmringe und Wasserpistolen feilbieten und in denen jeder Artikel nur einen Pfund kostet.
Im Vorfeld habe ich mehrere schwärmende Berichte über Filey gehört, doch bis auf die noblen Vorstadt-Villen, die Klippen und das Meer, kann ich beim besten Willen nichts entdecken, was mich hier länger halten würde. Vielleicht bin ich aber auch zu müde von dem Cocktail an Schmerztabletten, um die Attraktivität zu erkennen, mit der Filey angeblich ausgestattet sein soll. Mein Endspurt auf dem Wolds Way ist seltsam ernüchternd.
Zumal niemand mit meiner Ankunft hier etwas anfangen kann. Mir wird klar, dass ich meine Siegerehrung ganz allein ausrichten muss. Ich bitte einen vorbeikommenden Passanten, ob er ein Foto von mir schießen kann. Dann atme ich ganz tief die mich umwehende Seeluft ein und ziehe in Richtung Bahnhof davon.
Als Siegerprämie gönne ich mir das erste Mal in meinem Leben einen Sitzplatz in der ersten Klasse. Kaffee und Snacks gibt es gratis dazu. Und dann blicke ich lächelnd aus dem Fenster, an dem noch einmal die Wolds in all ihrer Pracht vorüberziehen und freue mich ganz für mich allein über meine Leistung. Ein weiterer National Trail liegt hinter mir. In den fünf Tagen auf dem Wolds Way habe ich trotz Höhen und Tiefen meinen persönlichen Traum vom perfekten Sommer erlebt. Ich habe einen neuen Landstrich erkundet, der so viel Schönheit birgt, dass ich jedem davon berichten werde. Ich habe neue Erfahrungen gesammelt, Augen und Herz haben sich geweitet, meine Zuneigung zu Land und Leuten hat sich vertieft und ich fühle mich mehr als je zuvor verbunden mit einer Heimat, die ich mir mit glücklichem Händchen selbst gewählt habe.
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