Ich telefonierte täglich mit meinen Eltern und wir legten fest, dass der Tag meiner Abreise am kommenden Montag sein sollte. Das waren noch 4 Tage. 4 Tage, in denen ich Normalität vorgaukelte, bei Italo wie bei den Kindern. 4 Tage, in denen ich permanent Angst hatte, dass er bemerken würde, was ich vor hatte. 4 Tage, die die Hölle waren. Dieses falsche Spiel kostete mich meine letzten Nerven.
Zudem wusste ich, dass ich mich mit meiner geplanten Aktion in Italien strafbar machte. Es war Frauen nicht erlaubt, gemeinsame Kinder ohne Wissen des Vaters ins Ausland zu verbringen. Genau das aber würde ich tun. Ich würde mich also des Kidnappings meiner eigenen Kinder schuldig machen.
Marco war erst 1 Jahr und 4 Monate alt. Er würde das Ganze nicht so bewusst mitbekommen. Aber Bianca tat mir so leid. Sie war vollkommen integriert in das Dorfleben, hatte Freunde im Kindergarten, ging so gerne dahin. Sie war 4,5 Jahre alt. Sie aus ihrem gewohnten Umfeld herauszureißen, das tat mir in der Seele weh. Aber es ging nicht anders.
Ich bemühte mich, Italo bei guter Laune zu halten. Das war nicht so schwer, denn er hatte mal wieder ein schlechtes Gewissen mir gegenüber. Immer wieder entschuldigte er sich bei mir für das Geschehene, immer wieder sagte ich ihm, es sei ok, es wäre alles in Ordnung.
Der Freitag verging. Ich holte mir an diesem Tag heimlich im Negozio 200.000 Lire als Reisegeld.
Der Samstag verging. Ich ging wie immer ins Einkaufszentrum zum Einkaufen. Diesmal aber kaufte ich unbemerkt auch unseren Proviant für die Reise ein.
Der Sonntag verging. Er war langweilig wie fast immer. Wir verbrachten den Tag zuhause. Nachmittags ging ich alleine mit den Kindern spazieren. Italo lag auf der Couch und ruhte sich aus, zwischendurch immer wieder ein Glas Wein trinkend.
Der Montag war da. Der Tag unserer Flucht.
Ich konnte es kaum erwarten, bis Italo endlich zur Arbeit musste. Er fuhr mit dem Fahrrad die kurze Strecke, wie immer. So hatte ich das Auto, wie immer.
Ich verabschiedete mich wie immer von ihm und wartete ein paar Minuten.
Es waren vielleicht ca, 15 Minuten vergangen. Nun konnte ich sicher sein, dass er bei der Arbeit angekommen war. Dann brach ich in Hektik aus. In Windeseile packte ich 2 Koffer voller Kleider für die Kinder und mich. Ich verstaute die Koffer im Kofferraum, packte Marco's Buggy ein und richtete unseren Reiseproviant. Ich nahm unsere Ausweise und das Geld und verstaute alles in meiner Tasche. Dann nahm ich Bianca auf den Schoß und versuchte ihr zu erklären, dass wir jetzt gleich zu Opa und Oma in Ferien fahren würden. Erstaunt fragte sie: "Und Papa? Fährt der nicht mit?" Ich wusste keine bessere Antwort als: "Papa muss doch arbeiten! Außerdem werden wir nicht so lange in Ferien bleiben, wir sehen den Papa bald wieder!"
Ich bemerkte, wie Bianca schwankte zwischen der Freude, zu Opa und Oma in die Ferien zu fahren und der Traurigkeit, ihren Papa alleine zuhause zu lassen. Die Liebe der Kinder zu ihren Eltern ist eben etwas ganz Besonderes. Es war nicht wichtig, wie oft Bianca mitbekommen hatte, wie ihr Vater mich behandelte, er war trotz allem ihr Vater und sie hatte ihn lieb. Und sie würde ihn vermissen, soviel war klar. Diese Erkenntnis machte mein Vorhaben nicht gerade leichter.
Ich setzte die Kinder ins Auto und schnallte sie an. Alleine kehrte ich nochmals kurz in die Wohnung zurück.
Ich schaute mich noch einmal in unserem schönen Zuhause um. Wehmut mischte sich mit Nervosität und Erleichterung. Endlich hatte das alles ein Ende! Andererseits: was war nur aus uns geworden! Ich stand da und betrachtete die Trümmer meiner Ehe. Und weinte.
Dann gab ich mir einen Ruck. Den Abschiedsbrief, den ich Italo geschrieben hatte, legte ich unübersehbar auf den Wohnzimmertisch. Wie würde er auf die Situation reagieren, wenn er in seiner Mittagspause wie immer nach Hause kam, um mit uns zu Mittag zu essen, die Wohnung aber verlassen vorfinden würde. Wieder bekam ich eine Art schlechtes Gewissen. Doch ich schüttelte es ab, verließ die Wohnung und schloss die Eingangstüre ein letztes Mal ab. Den Schlüssel legte ich unter den Schuhabstreifer. Dann setzte ich mich hinters Steuer, drehte mich lächelnd zu meinen Kindern um und sagte so fröhlich wie ich nur konnte:"Jetzt gehts los! Wir fahren in die Ferien!"
Ich fuhr rückwärts aus der Hofeinfahrt und links die Straße hinauf Richtung Ortsende von San Marino di Gadesco Pieve Delmona, wohl wissend, dass wir hierher in weiter Zukunft bestenfalls nur noch zu Besuch zurück kehren würden.
Im Rückspiegel wurde das Haus, in dem wir wohnten, immer kleiner.
Bianca, Marco und ich fuhren unserem neuen Leben ohne Italo entgegen.
Mein Leben als alleinerziehende Mutter begann.