Emrah Serbes. Deliduman

deliduman_türkisch

Cover der türkischen Originalausgabe

2014 erscheint im türkischen Original der Roman Deliduman, in dessen atemberaubendem Finale das Mädchen Cigdem vor den Wasserwerfern der Polizei auf dem Taksim-Platz im Mai 2013 den berühmten Moonwalk von Michael Jackson tanzen will.
Die Proteste im Gezi-Park liegen also lediglich ein paar Monate zurück, sind in den Köpfen der Leser noch präsent – da hat Emrah Serbes schon eine fertige Geschichte über diese Ereignisse.
Dass der Roman so schnell nun auch auf Deutsch vorliegt, ist dem Verlag binooki zu verdanken. Und ganz besonders der engagierten Übersetzung durch Selma Wels, die mir in einem Interview ein paar Fragen dazu beantwortet hat.

Auf der Lesung am 11. Oktober im Café Meyan in Schöneberg liest Selma aus dem neuen Roman und bittet um unser Verständnis, dass Emrah sich verspäte. Doch die Ereignisse in Ankara vom 10. Oktober hätten ihn so sehr geschockt, dass er die ganze Nacht hindurch schreibend verbracht habe. Viele seiner Freunde seien bei dem Bombenattentat ums Leben gekommen. Als er schließlich kommt, spricht unsägliche Trauer aus seinem Blick. Aber auch Wut! Jochen von lustauflesen.de hat auf eindrucksvolle Weise diesen Vormittag beschrieben.

Emrah_SerbesWenige Tage später halte ich mein eigenes Exemplar von Deliduman in den Händen … und lese. Atemlos.
Erzählt wird aus der Ich-Perspektive des 17jährigen Bruders von Cigdem, dem politisch unerfahrenen und desinteressierten Caglar. Das bringt einen ganz eigenen Ton in die Story, denn Caglar steht anfangs nicht auf der Seite der Aktivisten. Für mich ist das aber auch der besondere und unanachahmliche Emrah-Blues, der mich bei den jungen verlierern schon so faszinierte.

Caglar und sein Freund Bazillen-Cengiz tun alles dafür, dass Caglars kleine Schwester Cigdem mit ihrem Moonwalk berühmt wird. Als das Casting scheitert, drehen die Jungs ein Video in der Garage, das sie auf YouTube einstellen. Erst zögerlich, dann explosionsartig steigern sich die Klicks. Es scheint zu funktionieren! Funktioniert es? Leider nicht –

Dann passierte was passierte und es passierte uns. Der Widerstand in Istanbul nahm seinen Lauf (S. 140). Es ist der 31. Mai 2013 und die Situation in Istanbul am Taksim-Platz eskaliert. Klar – nun wollen alle nur noch die Videos der Demonstranten schauen und deren Inhalte teilen.
79.000 Klicks auf Cigdems Moonwalk verwandeln sich in Rauch … Für Caglar fühlt sich das an, als klatsche ein Schmetterling in vollem Flug gegen eine Wand. Er empfindet den Widerstand nicht als Rebellion gegen die Regierung, sondern gegen seine kleine Schwester. Er glaubt und hofft, die Sicherheitskräfte würden schnell alles zerschlagen, dann wäre es wie immer – auch in den sozialen Medien.

Ich finde diese Perspektive – die mich anfangs verwirrte – wirklich spannend. Ganz bewusst wählt Emrah Serbes den naiven Blick eines Siebzehnjährigen aus einem kleinen türkischen Ort, für den dort im Gezi-Park eine Gruppe von Radikalen, ein bißchen Prügel von der Polizei frißt (S. 140). 
Und so erklärt sich auch Cigdems Vorschlag, ein neues Moonwalk-Video vor den Wasserwerfern der Polizei zu drehen, um endlich richtig berühmt zu werden. Ahnungslos, wie Teenager eben sind, halten sie das anfangs für eine sehr coole Idee.

Doch in den Wirren der Ereignisse in Istanbul verlieren die Geschwister sich. Die Geschichte wird jetzt härter,  krasser. Auch wenn ich mehr und mehr spüre, wie sich Reales und Fiktives miteinander vermischen, verliere ich nie das Gefühl, eine erfundene Geschichte zu lesen. Manchmal übernehmen authentische Berichte und Filmaufzeichnungen die Regie, doch präsent ist immer Caglars jungenhafter Blick.
Beispielsweise, wenn er am Dienstag, den 11. Juni 2013 aufgeregt und mit Gänsehaut seinen ersten Wasserwerfer live sieht: So ein Wasserwerfer war eine riesige Maschine, er funkelte, er war schlicht und makellos, solange er nicht austickte … Gemeinsam mit den Demonstranten hinter der Barrikade beginnt Caglar, die schönen Wasserwerfer auszubuhen, hinter denen ungefähr vier bis fünf Millionen Sondereinsatzkräfte der Polizei kamen (S. 368).

Abschließend möchte ich Caglar noch einmal sprechen lassen, denn für mich lebt Deliduman ganz klar durch seine Stimme. Seine Verzweiflung um die verlorene Schwester beispielsweise ist grenzenlos, doch verbietet er sich, zu heulen. Er motiviert sich selbst auf jungenhafte, wilde Art und schafft das auch: Ehrlich gesagt bin ich ein Experte im Update aus der eigenen Asche (S. 308) und obwohl er weiterhin voll genervt ist, lässt er sich nichts anmerken, denn: Wie ich schon sagte … hatte ich so viel Energie hochgeladen, dass mich niemand mehr aus der Bahn werfen konnte, ich hatte mich von der Welt gelöst und mein eigenes geistiges Königreich errichtet (S. 315).

Was am Ende bleibt ist die Erinnerung an ein rauschhaftes Lesen, ein Taumeln durch die Ereignisse zwischen Tränengas und Wasserwerfern. Und immer wieder Cigdems herzzerreißende Versuche, mit dem Moonwalk berühmt zu werden.
Es bleibt auch die Gewissheit, Deliduman ein zweites Mal zu lesen, um Caglar, Cigdem und Bazillen-Cengiz erneut  begegnen zu können in jenem Sommer 2013 in Istanbul.
Und es bleibt das Bild der sterbenden Möwe, die Caglar vergeblich versucht, wiederzubeleben. Das Möwchen, wie er sie zärtlich nennt, symbolisiert für ihn in diesem Moment das Glück der Freiheit. Mit ihr möchte er fliegen, in salzige Meeresgischt eintauchen und Spaß haben. Doch es ist vorbei, das Reizgas über Istanbul in jenem Sommer 2013 hat die Möwe getötet und damit alle Hoffnungen.

Die Nacht nach dem Bombenattentat in Ankara vom 10.10.2015 hat Emrah schreibend und redend verbracht. Er war in Berlin, seine Freunde in Ankara. Vielleicht entwickelt er aus den tragischen Ereignissen jener Nacht bereits den nächsten Roman? Dann werde ich zu den ersten Lesern gehören. Ganz ehrlich? Ich kann es kaum erwarten.

© Vedat Arik

© Vedat Arik

Emrah Serbes. Deliduman. Aus dem Türkischen von Selma Wels. Verlag binooki 2015. 406 Seiten. 24,90 €

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