„Empört euch!“ – Doch genügt das?

Von Walter

Stéphane Hessels Büchlein „Empört euch!“ verkauft sich in Frankreich wie warme Semmeln. Auch in Deutschland und der Schweiz ist der Verkauf gut angelaufen. Woran mag das liegen? Denn wirklich Neues erzählt es kaum, noch ist es ein publizistisches Meisterwerk. Trotzdem scheint es den Nerv der Zeit zu treffen. – Die streitbare Besprechung einer Streitschrift.

Nicht dass das schmale Bändchen schlecht wäre. Ich habe jedenfalls die 15 Textseiten in einem Durchgang gelesen – und am nächsten Tag noch ein zweites Mal. Und das tue ich mir mit einem schlechten Text nicht an. Trotzdem lässt mich die Streitschrift „Empört euch!“ etwas ratlos zurück – und die Empörung über den Weltenlauf kam beim Lesen auch nicht so richtig in Fahrt …

Ist es die Wirkkraft der eindrücklichen Biografie Hessels, die dem Aufruf zum Widerstand Flügel verleiht? Hessel ist 93 Jahre alt, Philosoph, ehemaliger Diplomat und war im Zweiten Weltkrieg Mitglied des französischen Widerstands gegen die Besatzung durch die Nazis. Kurz vor der Befreiung Frankreichs wurde er von der Gestapo verhaftet, gefoltert und schliesslich nach Buchenwald verschleppt, wo er nur durch Zufall dem Tod entrann. Nach einer Odyssee durch weitere Lager konnte er schliesslich fliehen und sich zu den Alliierten durchschlagen. Nach dem Krieg trat er in den diplomatischen Dienst ein und war bei der UNO an der Ausarbeitung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt.

Zum Inhalt
Die Streitschrift „Empört euch!“ ist eine Art Vermächtnis an die Nachkommen, ein Aufruf  an die Jugend, sich empören zu lassen durch die Missstände in der heutigen Welt, Missstände, die in den letzten zehn Jahren deutlich gewachsen seien und das Überleben der Menschheit und des ganzen Planeten in Frage stellten. Diesen heutigen Zustand Frankreichs, ja, der ganzen Welt, vergleicht Hessel mit der sozialen und gesellschaftlichen Erneuerung, die unmittelbar nach dem Ende des Krieges durch den Nationalen Widerstandsrat und die provisorische Regierung in Frankreich angestossen wurde – und kommt zu einem vernichtenden Urteil: „Dieses gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften ist heute in Frage gestellt.“

In der Empörung angesichts des mutwilligen Abbaus der sozialen Sicherheit, der Vereinnahmung der Medien durch die Macht des Geldes, aber auch angesichts der Knechtung des palästinensischen Volkes durch die israelische Regierung und, und, und … in dieser Empörung sieht Hessels eine erste unentbehrliche Reaktion, um sich einzumischen – und um Widerstand zu leisten. Der Widerstand müsse allerdings gewaltlos sein und sich etwa am Beispiel Nelson Mandelas oder Martin Luther Kings orientieren. Er müsse ein „Aufstand der Friedfertigkeit“ sein. Am Schluss ruft Hessel, gleichsam als Quintessenz, den jungen Frauen und Männern zu: „Neues schaffen heisst Widerstand leisten. Widerstand leisten heisst Neues schaffen.“

Gut gemeint, aber naiv
So weit, so gut … gemeint. Wirklich aufzurütteln vermag diese Erkenntnis kaum. Wenn der Text berühren kann, so weil er von einem alten Mann in seiner letzten Lebensphase an die Jugend gerichtet ist, grad so wie wenn der Grossvater zu seinen Enkeln spricht. Hessel wünscht sich, dass die Jugend seine Erfahrungen sich zu eigen macht und Widerstand leistet, auch wenn die Missstände, die Anlässe für die Empörung nicht mehr so klar erkennbar seien wie damals die Besatzung Frankreichs durch Nazideutschland. Doch funktioniert das Leben so? Lehnen sich die Enkel auf, weil ihnen der Grossvater sagt, sie sollen sich auflehnen?

Überhaupt wirkt der Text auf mich – dort wo er Aufruf ist, nicht dort wo er Erzählung ist – ziemlich naiv, gut gemeint, aber naiv. Zum Beispiel wenn es heisst: „Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.“ Auch scheint mir das Büchlein etwas zusammengeschustert, ganz so, als wäre es in aller Eile hingeschrieben, angesichts des nahenden Todes noch schnell dem Leben abgetrotzt. Und es enthält auch einige Ungenauigkeiten – Gewalt wird zum Beispiel generell mit Terrorismus gleichgesetzt – und Patzer: „Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich.“ Gibt es denn Völker, bei denen es erträglich ist, wenn sie Kriegsverbrechen begehen?

Genügt Empörung?
Auch die Kernbotschaft der Streitschrift lässt mich etwas ratlos zurück. Genügt Empörung? Und führt sie wirklich – quasi automatisch – zu Engagement und Widerstand? Ist nicht auch Hass und Zerstörungswut eine mögliche Folge? Dann nämlich, wenn eine Perspektive fehlt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und gerade hier, bei der fehlenden Perspektive, sehe ich eine wichtige Ursache für unsere gelähmte, lähmende Gegenwart – nicht nur in Frankreich, in der ganzen Welt. Da hatten es die Widerstandskämpfer einfacher. Die Befreiung von den Besatzern war ein hehres Ziel.

Stéphane Hessel, „Empört euch!“, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011


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