Icosahedron (c)Margarida Dias
Ecosahedron von Tânia Carvalho/Tânia Oak Tree im Tanzquartier in Wien
Hinter dem etwas sperrigen Titel Ecosahedron, zu Deutsch Ikosaeder, versteckt sich ein klar strukturierter 2teiliger Tanzabend mit insgesamt 20 Tänzerinnen und Tänzern, die aus 5 Nationen stammen.
Die portugiesische Choreografin Tânia Carvalho/Tânia Oak Tree – die ihren Namen zweisprachig angibt, bezieht sich darin auf den Ausdruckstanz von Rudolf von Laban, der diesen in großen Teilen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Monte Veritá in der Nähe von Ascona entwickelte. Dabei kategorisierte er die menschlichen Bewegungen, die er in einen Ikosaeder eingeschrieben sah, also einer geometrischen Figur mit 20 Flächen. Von Laban gilt mit Mary Wigman als Begründer des Ausdruckstanzes und wird mit Nachfolgeschulen als einer der Urväter des modernen Tanzes angesehen.
Zwar verwendet die Choreografin tatsächlich immer wieder spezielle Posen, die im Ausdruckstanz Labans zu finden waren, aber diese bilden dennoch nur Versatzstücke. Vielmehr ist es eine ihr ganz eigene Bildsprache, welche die beiden unterschiedlichen Teile des Abends charakterisieren. Die beiden „Stücke“ stehen für sich alleine, sind aber durch eine grobe Klammer miteinander verbunden. Diese Verschränkung macht deutlich, dass Tânia Carvalho/Tânia Oak Tree die beiden Stücke in einem Bezug zueinander sehen will und folgt man der kurzen Erklärung im Programmheft, wird deutlich, dass eines ihrer Anliegen darin besteht, die unterschiedlichen Facetten der Menschen aufzuzeigen. Mit anderen Worten: Die verschiedenen Gesichter, die jeder von uns besitzt und sie in unterschiedlichen Momenten auch verwendet.
Im ersten Teil ist Tânia Carvalho/Tânia Oak Tree bestrebt, den Tanz als ein Ereignis zu inszenieren, welches hauptsächlich Bilder evoziert, die durch die Menschenmenge hervorgerufen wird, die auf der Bühne agiert. Meist fügen sich die Akteurinnen und Akteure zu Fünfergruppen zusammen, um synchron Bewegungsmuster auszuführen. Oder sie agieren als Masse, die einem einzelnen Tänzer gegenübergestellt wird. Während dieser in denkmalgleicher Pose verharren muss, formieren sich alle anderen in sonderbaren Fortbewegungsmustern – meist am Bauch robbend – von Einzellebewesen zu einem kompakten Knäuel, welches die Idee eines Menschen als ihr Ziel anzustreben scheint. Der Darwin´sche Evolutionsgedanke scheint hier Pate gestanden zu haben. Nie kommt das Gefühl der Zufälligkeit auf, keine der Positionen, wirkt sie während der Aktion auch noch so zufällig, ist dies auch. Alles scheint einem speziellen Bauplan unterworfen. Einem Plan, der größer ist als die choreografischen Anweisungen. Jedes einzelne Ensemblemitglied hat darin seinen ganz bestimmten Platz. In Sequenzen, in welchen die Körper wie die kleinen Glassteinchen eines Kaleidoskopes agieren, die sich nach jeder Drehung der Röhre von Neuem zu einem geometrischen Muster formieren, wird dies besonders deutlich. Erst gegen Ende des ersten Teiles verwandelt sich das bis dahin sehr abstrakte Geschehen hin zu einem menschlicheren Ausdruck, in welchem zwar noch immer die einzelnen Gruppen die treibenden Elemente darstellen. Dennoch kommt den Individuen nun durch kleinteiligere Bewegungen, die sich mehr auf den einzelnen Körper als auf den Gesamteindruck beziehen, mehr Bedeutung zu.
Diese stärkere Individualität bestimmt auch den zweiten Teil des Abends. An ihm zeigen die Beteiligten, welch umfassende Ausdrucksmöglichkeiten ihre Bewegungen tatsächlich bieten. Wie außer Rand und Band agieren sie zu Beginn alleine, zu zweit oder zu dritt und bevölkern die Bühne als wäre sie eine Metapher für das Tollhaus des Menschseins. Vergessen scheint jede zielgerichtete Aktion. Vergessen scheint die Gemeinschaft, der alles unterzuordnen ist. Es wird nun getanzt und gekämpft, kopuliert und sinniert bis zu jenem Punkt, an dem die Klangkulisse wechselt. Diogo Alvim, der dafür verantwortlich zeichnet, verändert das akustische Ereignis, das man bis dahin als Klangteppich aus verschiedenen akustischen Qualitäten bezeichnen konnte und wechselt in eine Elegie, die durch Blechbläser und Orgelklänge bestimmt ist. Mit dem einsetzenden Lichtwechsel und der Trauermelodie verwandeln sich nun die einzelnen Individuen zwar wieder zu Gruppenmitgliedern. Allerdings sind sie nun – ganz im Gegensatz zum ersten Teil des Abends – mit einer starken Emotion, jener der Trauer, verbunden. Sie überkommt die Tänzerinnen und Tänzer allmählich, ergreift von ihnen Besitz und bleibt für den Rest des Abends das bestimmende Element. Die vielen Gesichter des Schmerzes, die anfänglich noch als schier unendliche Variationen dieser Emotion erscheinen, verändern durch ihre ständige Wiederholung schließlich den Blick und die eigene Wahrnehmung darauf. Tatsächlich wird einem bewusst, dass es ein eingeschränktes Bewegungsrepertoire ist, welches dem Menschen in der Emotion der Trauer zur Verfügung zu stehen scheint. Das Verhüllen des Kopfes, das Senken des Blicks zu Boden, ein Ausstrecken der Arme ins scheinbare Nichts, in dem kein Halt mehr zu finden ist, all dies wird wieder und wieder beinahe endlos wiederholt und bietet so zugleich die Möglichkeit, diese Trauer als etwas zu verstehen, was kein Einzelschicksal darstellt, sondern kollektiv wahrgenommen wird. Damit schließt sich auch der Kreis dieses Abends. So individuell der Mensch an sich auch sein mag, er ist dennoch ein soziales Wesen mit kollektiven Grundstrukturen und scheint tatsächlich nur einem bestimmten Raster an Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten zu unterliegen. Zumindest dann, wenn eine weltanschauliche Vorgabe diese Begrenzung determiniert.