Der arabische Frühling und was er für die Welt bedeutet
Da in einer Reihe mit “Empört Euch!“, “Engagiert Euch!” und dem Heft über die tunesische Revolution “Vernetzt Euch!” erschienen, musste ich auf Rat meiner Buchhändlerin auch dieses Heftchen mitnehmen. Das gleich vorab: ich kann damit wenig anfangen.
Emanuel Todd ist nicht unumstritten; seine Thesen, die er hier in einem Gespräch mit Daniel Schneidermann darlegt, kommen mir nur halbdurchdacht vor. Was aber – ich gebe es zu – vor allem damit zu tun haben könnte, dass ich eher den wirtschaftlichen Zusammenhängen in der Welt das Primat vor allen kulturellen und gesellschaftlichen zugestehe.
Und wenn Todd schreibt:
Ich denke nicht in den Begriffen der Wirtschaftssysteme. Für mich ist Wirtschaft eine zweitrangige Variable. Ich bin radikaler Antimarxist, und Ultraliberalismus ist für mich ein gewendeter Marxismus. In meinen Augen ist die Wirtschaft deutlich weniger bestimmend, als es die Familienstrukturen oder der Anstieg des Bildungsniveaus sind. (Seite 89)
dann zeigt das deutlich die Unterschiede in seinem und meinem Denken auf.
Todd geht davon aus, dass es sogar möglich ist, die Zukunft einer Gesellschaft vorauszusehen, wenn man die Familienstrukturen (vor allem auch die Fertilität einer Gesellschaft) und den Bildungsgrad und deren Entwicklung und Abhängigkeit voneinander, analysiert. Die Ergebnisse, die er bei seinen Analysen ermittelt, wirken oft überraschend richtig. Allerdings denke ich, dass manche seiner Ergebnisse nur deshalb entstehen, weil er sich die Ausgangsdaten passend macht.
So schreibt er unter anderem über die Nachkriegsgeschichte Deutschland:
und übersieht dabei geflissentlich, dass er damit ein gutes Drittel Deutschlands außer Acht lässt. Denn dieser Satz ist eingebettet in eine Analyse, in der er versucht, zwischen Deutschland und Russland Vergleiche anzustellen. Hier darüber zu reden, dass der ehemalig russisch (sowjetisch) besetzte Teil Deutschlands nach dem Krieg eine vollständig andere Entwicklung – gesellschaftlich als auch wirtschaftlich – nahm, passt nicht in sein Denkkonstrukt – und wird deshalb ausgespart.
Todd zeigt sich in seinem Antworten als Nationalist; nicht als Internationalist. Für ihn gelten für jedes “Volk”, jede “Nation” andere Regeln. Das halte ich für völlig falsch. Auch das obige Zitat, in dem er der Wirtschaft das Primat abspricht, bricht er selbst immer wieder. Wenn er zum Beispiel Deutschland eine “egoistische Wirtschaftspolitik” (innerhalb Europas) zuspricht, gibt er selbst zu, dass Staaten vor allem an ihrer Wirtschaftskraft gemessen werden (ob ich das nun korrekt finde oder nicht).
Einen relativ breiten Raum des Buches nimmt Todds Beschäftigung mit dem Islam ein. Hier hat er ein paar dem Mainstream entgegenstehende Thesen aufgestellt, denen ich folgen kann. So schreibt er
Das Klima, in dem wir leben, ist erschreckend. Das Problem ist jedoch nicht der Islam. Diese Religion ist sehr vielfältig. [...] Die Partilinearität setzte sich im mittleren Osten schrittweise im 3. und 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung durch, also Jahrtausende vor dem Islam. Der Islam hat sich die schon existierenden familiären Bräuche einfach einverleibt. (Seite 57)
Das entspricht auch meiner These, dass nicht die Religion “Islam” der Grund für das extrem patriarchalische System ist, mit dem es oft gleichgesetzt wird.
Alles in allem war ich aber sehr enttäuscht von dem Büchlein. Entspricht es doch keinesfalls den revolutionären Gedanken, die Inhalt der anderen drei Heftchen der Serie sind.