Ich fing also an, kindgerecht zu erzählen, wovon die Verwüstung herrührt und konnte mir natürlich ein gewisses Urteil nicht verkneifen. Ich sagte so sinngemäß, dass viele Menschen an Silvester Feuerwerk und Böller anzünden, dann den Müll auf der Straße liegen lassen und am nächsten Tag extra die Straßenreinigung kommen muss, um das alles wieder zu beseitigen. Und dass das alles, sowohl der Kauf des Feuerwerks als auch die Beseitigung der Überreste, wahnsinnig viel Geld kostet, einen riesigen Müllberg verursacht und deshalb ein großer Quatsch ist. Darin stecken sowohl sachliche, objektive Aussagen als auch mein persönliches Urteil, dass ich es nicht gutheiße. Die Kinder haben nichts weiter dazu gesagt, dafür sind sie noch zu klein. Aber ich fragte mich danach schon, ob ich ihr Bild von Silvester damit beeinflusst habe und ihnen mein Urteil vorgebe. Und ob es überhaupt geht, ihnen Sachverhalte urteilsfrei zu vermitteln, wenn man selbst abgestoßen ist und etwas nicht gut findet. Ja, soll man sie denn völlig neutral aufwachsen lassen und keinerlei Urteile fällen oder schweben sie damit nicht eher im luftleeren Raum und kriegen keine Wertvorstellungen oder Orientierungspunkte vermittelt? Das sind schwierige Fragen, die ich mir zu allen möglichen Themen immer wieder stelle.
Zum Beispiel habe ich persönlich absolut schlechte Erinnerungen an meine Schulzeit, ich habe die Rahmenbedingungen von Schule (nicht das Lernen!) wirklich gehasst und war heilfroh, als die Zeit überstanden war. Im Herbst 2016 wird die Schulanmeldung meines Großen auf der Agenda stehen und das Thema wird dann bis zur Einschulung (und danach erst recht) sicherlich viel Raum bei uns zuhause einnehmen. Bisher versuche ich natürlich, ihm das Thema Schule so neutral wie möglich zu vermitteln und an ihn heranzutragen, aber ich denke mal, es wird nicht ausbleiben, dass ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen eine Meinung durchschimmern lasse oder er es spürt, ob ich will oder nicht. Schon jetzt sage ich manchmal, wie froh wir sein können, dass wir am Nachmittag in den Park, auf den Spielplatz oder zu Freunden gehen können und nicht über Hausaufgaben sitzen müssen. Oder dass wir morgens noch früher losgehen müssen, wenn er in die Schule geht. Solche Aussagen sollen eigentlich betonen, dass wir die Zeit jetzt noch ausnutzen und genießen sollten, aber darin stecken auch tendenziell negative Urteile über die kommende Schulzeit. Nun mache ich mir Gedanken darüber, ob ich den Großen bzw. die Kinder damit irgendwie beeinflusse.
Ein weiteres Beispiel: ich habe ein Fußballtrauma. Die Männer meiner Familie waren/sind alle fußballbegeistert und nahmen mich als Kind mit ins Stadion. Das Publikum empfand ich als primitiv (sorry an alle Fußballbegeisterten, rein persönliche Empfindung!), für ein hochsensibles Kind war die Stadionerfahrung wirklich eine Zumutung. Außerdem wurde bei uns zuhause Fußball im Radio und Fernsehen rücksichtslos und in einem Ausmaß gehört bzw. geschaut, das ich schon damals als Kind, aber erst recht jetzt als Mutter für völlig übertrieben halte. Ich bin also geprägt und naturgemäß gibt man Prägungen in irgendeiner Form weiter. Auch wenn ich mich immer dazu anhalte, möglichst neutral zu bleiben, erwische ich mich dabei, dass ich versuche, den Großen zum Weitergehen zu animieren und abzulenken, wenn er bei einem Fußballspiel stehenbleibt. Sollte er jemals den Wunsch äußern, Fußball zu spielen, werde ich vermutlich sehr zurückhaltend darauf reagieren (verwehren werde ich es ihm natürlich nicht). Wird er das spüren? Ist es überhaupt schlimm, wenn er das spürt, oder nicht vielmehr völlig normal, dass auch die Eltern Vorlieben und Aversionen zeigen?
Keiner von uns ist in einem neutralen Umfeld aufgewachsen, jeder hat Urteile, Prägungen und Einflüsse erfahren. Manches gibt man genauso oder ähnlich weiter, manches verändert sich, anderes schlägt genau ins Gegenteil um. Komplett werteneutral kann man mit Sicherheit nicht erziehen. Aber ist das denn überhaupt gut? Sollen Kinder nicht vielmehr Werte und Urteile von Eltern und anderen Bezugspersonen erfahren, um aus diesen Meinungen und Einschätzungen ein eigenes Urteil bilden zu können? Dazu kommt ja auch noch, dass nicht nur ich als Mutter, sondern auch der Vater und andere enge Bezugspersonen Einfluss auf die Kinder nehmen und aufgrund ihrer eigenen unterschiedlichen Prägungen auch verschiedene Werte und Einflüsse weitergeben. Der Charakter des Kindes spielt eine große Rolle. Was mich selbst betrifft, so habe ich in vielen Aspekten einen komplett anderen Weg eingeschlagen und andere Urteile entwickelt als die, die ich von zuhause mitbekommen habe. Schon als Kind habe ich gewisse Dinge verabscheut, obwohl ich diesem Einfluss tagtäglich ausgesetzt war. Das rührt aus meinem extrem autonomen Charakter her. Ich merke aber natürlich auch in meiner Umgebung, dass viele andere Erwachsene entweder unreflektiert oder aus Überzeugung das weitertragen, was ihnen selbst in ihrer Kindheit vermittelt wurde.
Ich weiß noch nicht, welchen Weg meine Kinder einschlagen werden. Ich frage mich halt nur, ob man eher (anständige) Urteile und Werte entwickeln kann, wenn man so neutral wie möglich erzogen und möglichst wenig beeinflusst wird oder ob es im Gegenteil fruchtbarer ist, Kinder mit (auch entgegengesetzten) Werten zu konfrontieren, damit sie sich ggf. abgrenzen oder identifizieren können? Wie geht man am besten damit um, wenn der andere Elternteil, die Großeltern oder andere Bezugspersonen Werte und Urteile vermitteln, die man nicht so gutheißt oder nachvollziehen kann? Also z.B. konkret: der von meinem Großen sehr geliebte Opa, mein Vater, ist Fußballfan, wie oben beschrieben, ich selbst habe dagegen ein Fußballtrauma. Jede dieser Perspektiven hat seine Berechtigung und ist subjektiv richtig. Wie verhält man sich da in Situationen, wo beide Auffassungen aufeinanderprallen? Versuche ich neutral zu bleiben, ärgere ich mich vielleicht, dass die andere Seite dies nicht macht. Bin ich nicht neutral, prallen zwei Auffassungen aufeinander und die Gefahr besteht, dass das Kind das Gefühl bekommt, sich zwischen den beiden geliebten Menschen entscheiden zu müssen. Das ist nur ein belangloses Beispiel von vielen anderen aus dem Alltag. Oftmals geht es ja um sehr viel entscheidendere Probleme. Sollen Kinder so lange wie möglich "leere", unbeeinflusste Menschlein bleiben und man sich deshalb mit eigenen Beurteilungen zurückhalten, damit sie ihren Weg finden können, oder schon früh verschiedensten Einschätzungen und Wertvorstellungen ausgesetzt werden - auch, damit sie ihren Weg finden können, nur auf andere Art und Weise?
Was meint ihr bzw. wie handhabt ihr das? Und wie war es in eurer Kindheit, wie war eure Erziehung in dieser Hinsicht geprägt? Ich freue mich auf eure Denkanstöße und Anregungen.