Durch eine Sendung des Büchermarkts kam ich auf dieses Buch, das eine wahrhaft ungewöhnliche Entstehungsgeschichte hat:
Ein altes Manuskript
Bei Recherchen zu seinem Roman „Königsallee“ (über Thomas Manns Beziehung zu Klaus Heuser) besuchte Hans Pleschinski die Nichte Heusers, die ihm von den Lebenserinnerungen der Großmutter Heusers erzählte. Ob er sie nicht lesen wolle?
„Nach der Lektüre der Memoiren gab es für mich kein Zögern, die Erinnerungen an eine vergangene Welt als Buch und mit Zeitkommentaren zugänglich zu machen“ (Editorische Notiz, S. 253).
Die genannten Zeitkommentare sind relativ umfangreiche Erläuterungen, die meist an den Anfängen der Kapitel stehen und dem Leser Hintergrundwissen vermitteln, damit er den Text gut versteht.
Tochter des Malers Alfred Rethel
Die Verfasserin dieser Erinnerungen, Else Sohn-Rethel (1853–1933), war die Tochter des Malers Alfred Rethel (der in Wahnsinn verfiel und früh starb) und der Tochter reicher, kunstsinniger Dresdener Bankiers (Familie Oppenheimer). Die Mutter schwebte meist in dichterischen Sphären, sodass die Tochter bald zum eigentlichen Familienoberhaupt wurde und zum Beispiel auf Reisen die Hotelrechnungen beglich.
Gattin des Porträtisten Carl Rudolph Sohn
Sie verliebte sich ihrerseits in einen Maler, den erfolgreichen Porträtisten Carl Rudolph Sohn, der aus einer Malerdynastie stammte, heiratete ihn und verbrachte mit ihm ein interessantes Leben, sei es in Sohns Heimatort Düsseldorf, sei es im Sommer in Dresden oder an Orten, wo ein Auftrag ihren Gatten hinverschlagen hatte. Oft musste sie ihn auch allein ziehen lassen, etwa an den Hof von Königin Victoria, wo er nicht nur die Königin selbst, sondern auch zahlreiche Adelige portraitierte. Er arbeitet hier in einer Liga etwa mit Franz Xaver Winterhalter, dem ebenso berühmten Portraitisten der Adelswelt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dessen Portrait der Kaiserin Elisabeth von Österreich jeder kennt.
Das ganze Leben
Else berichtet von ihrer Kindheit im riesigen Haus der Großeltern in Dresden, über Reisen, Kriegsereignisse (denen man im 19. Jahrhundert noch geradezu gemütlich zuschauen konnte), über Bälle, Maskenfeste (etwa im Düsseldorfer Künstlerclub „Malkasten“), über Umzüge zu Ehren des Kaisers, über Krankheiten und frühen Kindstod, über Erfolg und Misserfolg der Künstler in ihrer Bekanntschaft – schlicht: über das ganze Leben.
Dass sie als Jüdin dabei niemals auch nur andeutet, mit dem steigenden Antisemitismus ihrer Zeit in Berührung gekommen zu sein, verwundert den Herausgeber.
Nie überheblich
Else Sohn-Rethel schreibt einen völlig unprätentiösen, einfachen, aber lebendigen Stil, ganz ohne Allüren. Das macht diese Erinnerungen sehr sympathisch. Sie erhebt sich nie über andere, gesellschaftlich tiefer stehende Personen und sieht alle Menschen, von denen sie berichtet, aus einem positiven Blickwinkel. Außer vielleicht Kaiser Wilhelm II., der sich als griesgrämiger Missächter der Anstrengungen seiner einen großartigen Umzug ausrichtenden Düsseldorfer Untertanen erweist.
Ein Fragment
Die Memoiren brechen allerdings mitten im Leben der Autorin ab, ungefähr im Jahr 1900. Da das Originalmanuskript verschollen und nur eine Maschinabschrift vorhanden ist, kann man nicht beurteilen, ob es noch weitere Abschnitte gegeben hat. Else Sohn-Rethel lebte immerhin bis 1933 und hätte gewiss noch viel Interessantes zu erzählen gehabt.
Einige Schwarzweißabbildungen ergänzen den Text.
Else Sohn-Rethel: Ich war glücklich, ob es regnete oder nicht. Lebenserinnerungen. Hg. v. Hans Pleschinski. C. H Beck, München, 2016. 255 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Semperoper Dresden. Tuschestift. 2015.