Else Hirsch war eine kleinwüchsige, unscheinbare, ja, vielleicht sogar wenig ansehnliche Person, die, wie Zeitzeugen erinnern, sich auch wenig vorteilhaft kleidete. Keine guten Voraussetzungen, um gesellschaftlich eine größere Rolle zu spielen, doch ihr Wissen und Können waren herausragend und ihre charakterlichen Eigenschaften blieben noch Jahrzehnte in den Köpfen derjenigen, die ihr begegneten und überlebten. Sie war das, was man eine geborene Lehrerin nennen konnte, die nicht nur Wissen vermittelte, sondern auch mit leiser Hand erzog. Ihre engagierteste Zeit hatte sie in der jüdischen Schule in Bochum, die Zeit davor schildert sie selbst in ihrem Lebenslauf: „Ich, Else Hirsch, jüdischen Bekenntnisses, wurde am 29. Juli 1889 als Tochter des Kaufmanns Hugo Hirsch in Bützow in Mecklenburg-Schwerin geboren. Von Ostern 1896 – 1906 besuchte ich die Hoffmann’sche höhere Mädchenschule meiner Vaterstadt, dann das Scharenberg’sche Seminar in Schwerin i. M. Dort bestand ich im November 1908 vor der Großherzoglich-Mecklenburgischen Prüfungskommission das Examen für höhere Schulen. Von Ostern 1909 – 1911 unterrichtete ich an der höheren Privat-Knaben- und Mädchenschule in Gosslershausen in Westpreußen, seitdem an der höheren Privatmädchenschule in Lautenburg in Westpreußen. Ostern 1917 wurde diese Schule mit den gehobenen Klassen der Volksschule zur städtischen Mittelschule vereinigt, und ich wurde dort unter Anrechnung meiner Privatschuldienstzeit endgültig angestellt. Im Januar 1920 wurde Lautenburg polnisch und ich musste abwandern. Ich ging nach Berlin, wo ich mehrere Handelskurse belegte und Privatstunden erteilte. Im Juli 1922 wurde ich vom Fürsorgeamt für Beamte aus den Grenzgebieten zum Bürodienst einberufen. Am 31. März 1924 wurde ich wieder entlassen. Seitdem erteilte ich wieder Privatunterricht, hatte häufig Vertretungen und nahm an Kursen teil. Im September 1926 wies mir das Fürsorgeamt eine Stelle an der israelitischen Volksschule in Bochum zu, die ich am 1. April 1927 antrat.“ Die Anstellung in Bochum war für sie und auch für die Bochumer Kultusgemeinde keine ‚Liebesheirat’, die einen trauten ihr die an sie gestellte Aufgabe nicht zu, sie selbst hätte lieber an einem Gymnasium unterrichtet, denn an einer Volksschule. Ihr Schulleiter Erich Mendel, der auch Kantor der Kultusgemeinde war, war pädagogisch gesehen weniger qualifiziert als Else Hirsch, doch begab sie sich in ihr Los und in kürzester Zeit hatte sie die Herzen der Schüler, der Eltern und des kleinen Kollegiums erobert. Else Hirsch war eine Persönlichkeit, die erst auf den zweiten Blick zum Vorschein und zum erblühen kam, wer sich also diese Zeit nahm, lernte eine charmante und kenntnisreiche Person kennen, sie sprach vier Sprachen sprach, sie war redegewandt und engagierte sich in ihrer Freizeit vielfältigen Frauenfragen; ferner gab sie Englisch- und Hebräischunterricht für Auswanderwillige. Privat lebte sie mit ihrer Mutter zusammen in einer sehr schön ausgestatteten Wohnung, ganz in der Nähe der Bochumer Synagoge und dem Schulgebäude. Ein Spruch, den Else Hirsch einer ihrer Schülerinnen ins Poesiealbum schrieb, trifft auch auf sie selbst zu:
„Richte nicht den Wert des Menschen
schnell nach einer kurzen Stunde
Oben sind bewegte Wellen
doch die Probe liegt im Grunde“.
Zwar waren die Zeiten vor 1933 von Antisemitismus geprägt, doch erst nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten verstärkten sich die Repressalien für die jüdische Gemeinde in Bochum und natürlich auch für die israelitische Volksschule. Allen voran stand der Oberbürgermeister der Stadt Bochum Dr. Leopold Piclum, ein Nationalsozialist der ersten Stunde und ein ausgewiesener Antisemit. In ‚vorauseilendem Gehorsam’ arbeitete das Schulamt gegen die jüdische Schule und ihre Lehrer, verweigerte Mittel oder schränkte sie in ihrer Tätigkeit so weit wie möglich ein. Doch noch war die Gesetzeslage auf Seiten der jüdischen Menschen, so dass das ‚nur’ eine Zermürbungstaktik war; doch diese zeigte auch Wirkung, denn in den Jahren von 1933 bis 1938 halbierte sich nicht nur die Schülerzahl, sondern auch die Anzahl der Gemeindemitglieder. Der Ausreisewille der Bochumer Juden war groß und fast jeder von ihnen nahm vorher Sprachunterricht bei Else Hirsch, ihre Englisch- und Hebräischkurse waren immer voll besetzt, einige lernten auch Spanisch bei ihr, doch das waren nur wenige. Im Juni 1938 war Else Hirsch selbst in Palästina, sie nahm Kontakt zu der Kinder- und Jugend-Alijah auf, um ihre Schüler besser auf ein Leben in Palästina vorbereiten zu können. Hier entschied sie auch, dass für sie selbst und ihre Mutter Palästina keine neue Heimat werden könnte, zu schwer waren aus ihrer Sicht die Anfänge in diesem Land, vor allem die von ihr erwartete körperliche Arbeit war aus ihrer Sicht von ihr nicht zu leisten. Das sie zurück nach Deutschland fahren würde, stand für sie außer Zweifel, denn sie hätte ihre Schüler nie im Stich gelassen. Im November 1938, in der Reichspogromnacht, brannte auch die Synagoge von Bochum aus, da die Feuerwehr die umliegenden ‚arischen’ Häuser schützte, brannte das Schulhaus nicht ab, doch es wurde von einem Rudel SA-Männern derart verwüstet, dass die Schulbehörde die Schule schließen konnte, da es kein Schulmaterial mehr gab. Der Schulleiter Erich Mendel wurde verschleppt, misshandelt und ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wurde aber nach zwei Monaten wieder entlassen und da seine Ausreisepapiere bereits ausgestellt waren, emigrierte er in die USA; so lange es ging hielt er brieflichen Kontakt mit Else Hirsch, wie auch andere bereits emigrierte Familien aus Bochum. Else Hirsch war die einzig verliebende Lehrerin der Schule und sie kämpfte dafür diese wieder zu eröffnen, obwohl sie bereits aus dem Schuldienst entlassen worden war. Sie erreichte ihr Ziel auch Anfang 1939, da war die Schule aber bereits rechtlich zu einer Privatschule erklärt worden. Mit den wenigen verbliebenen Schülern, zuletzt waren es 24 von vormals über 600 Schülern, nahm sie den Unterricht wieder auf, doch nicht alle Eltern konnten sich das Schulgeld leisten, da die finanzstärkeren Gemeindemitglieder bereits emigriert waren. Doch Else Hirsch arbeitete unermüdlich weiter, vor allen Dingen organisierte sie von Ende 1938 bis August 1939 Transporte jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Bochum nach Holland und vor allem England. Die gesamte Vorbereitung lag in ihren Händen: Sie registrierte die Kinder, füllte lange Fragebögen aus, stellte Unterlagen zusammen, schickte die Papiere nach London, besorgte die Ausreisegenehmigungen, reservierte die Plätze in den Zügen, kaufte die Fahrkarten und stand in engem Kontakt zu den Eltern. So rettete sie vielen Kindern das Leben. Als es Zeit wurde, dass auch sie das Land verlassen müsste, war es zu spät, Ausreisegenehmigungen für Juden wurden nicht mehr erteilt und sie selbst konnte keines der letzten Visa bekommen. Ihre Wohnung musste sie aufgeben, denn die ‚arischen’ Hausbesitzer wollten keine jüdischen Mieter mehr dulden, so zog sie in ein so genanntes Judenhaus, hier wohnte auch ihre Freundin Erna Philipp, die Gemeindesekretärin der Kultusgemeinde. 1940 wird die Bochumer Schule gänzlich geschlossen, die verliebenden 7 Kinder mussten nun in die Schule nach Gelsenkirchen fahren. Else Hirsch war nun auch ihre Stelle als Privatlehrerin los, doch sie erteilt weiterhin nachmittags Sprachunterricht.
Nach den ersten Deportationen der Bochumer Juden verliert sich die Spur von Else Hirsch, lange wurde vermutet, dass sie nach Theresienstadt deportiert wurde und von da aus nach Auschwitz kam; doch Zeit- und Augenzeugen bezeugten später, das Else Hirsch zu den Deportierten ins Ghetto Riga gelangte. Das es hier unterschiedliche Aussagen gab, ergab sich aus Namensgleichheiten; doch da die Geburtsdaten nicht übereinstimmten, handelte es sich um eine andere Else Hirsch, einer Frau aus Düsseldorf. Aus den Unterlagen von Yad Vashem von 1957 geht eindeutig hervor, dass die Bochumerin Else Hirsch im Ghetto Riga war. Hier gibt es Zeugenaussagen, dass sie wieder Schüler unterrichtete, auch zwei Schüler die sie noch aus Bochum kannte. Auch hat sie nach Aussagen von Überlebenden, sich sehr um die Alten im Ghetto gekümmert. Doch die Zahl der Alten und Kinder verringerte sich im Ghetto zusehens, da diese als erste zu den Selektierten gehörten. Nun verliert sich die neblige Spur von Else Hirsch gänzlich, denn dass sie nach Auflösung des Ghettos Riga in des Lager Jungfernhof, oder das Lager Kaiserwald gekommen wäre, ist nach Lage der Dinge unwahrscheinlich, denn das eine kleinwüchsige, damals 59jährige Frau zu harter Arbeit selektiert wurde, erscheint wenig glaubhaft, vielmehr ist anzunehmen, dass sie zu den Opfern von Massenerschießungen im Hochwald Bikernieki außerhalb des Rigaer Ghettos gehörte. So ist davon auszugehen, dass sie im Herbst 1943 ermordet wurde.
Heute erinnert ein Stolperstein in der Bochumer Innenstadt an ihr Wirken. Ein Überlebender von Riga bringt in einem Brief rückblickend das Wesen von Else Hirsch auf den Punkt: „Sie war eine Frau mit großem Mut und großer Hingabe.“
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darüber hinaus:
➼ Shoah in Lettland • KZ Kaiserwald & Lager Salaspils
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Bilder 1-3: 1. Else Hirsch mit Schülern 1937 · 2. Alte Synagoge Bochum · 3. Stolperstein Else Hirsch – Quelle: wikimedia.org