Elke Erbs Poetics
ein sehr schöner Text über Gedichte von Martin Bernhardt, der sich am 24.10. 2000 mit 39 Jahren das Leben nahm. Schön auch, wie souverän Elke Erb von ihren eigenen Grundsätzen absehen (über sie hinweg sehen) kann. Und was sieht, wo sie hinsieht.
Martin Bernhardt Greifswald
NOTWEHR
Der Baum warf
als tödliche Kälte
in sein Geäst drang
seine Blätter auf die Erde
Hier nehmt …
Die Säfte blieben im Stamm
Retter des Lebens für
wärmere Zeit
(1978)
* * *
Je mehr ich die Zeit
nicht wandle
wandelt sie mich
So brechen wir auf
denn was wir alles
verloren ist wenig
das meiste hatten wir nie
Indem wir uns
tragbar werden
werden es nicht unsere Grenzen
Fürchtet euch nicht!
(1982)
Das ist ein Sinn-Spruch, Wahrspruch. Seine Ansprache ist leise, bescheiden, er berichtet. Sein letzter Vers möchte aufärichten. Er ergibt sich folgerichtig aus den anderen. Das So der vierten Zeile beginnt eine Schlußfolgerung aus dem Ultimatum der ersten 3, die folgenden 3 fügen sich, wie die ersten, still aneinander.
Weil die fünfte nicht selbständig steht, sprechen auch die beiden folgenden nicht selbständig, obwohl sie selbständig stehen könnten, sogar mit Ausrufezeichen:
Verloren ist wenig! – Das meiste hatten wir nie!
Für sich allein könnte auch Denn was wir alles selbständig stehn, nämlich abbrechend – der sie spricht, gäbe es auf, über das alles hinweg noch etwas zu erwägen. Und diese minimale Aufgabe wirkt auch hier nach dem Abbruch, so daß verloren ist wenig eben nicht mit Ausrufezeichen stehen kann.
Die nächsten 3 Zeilen sind klug, wenn gar auch schon weise. Sie setzen zurecht die Vers-ähnliche Unterbrechung als Pause für das Folgen und Besinnen ein.
Der erste Text (NOTWEHR)ist offenkundig nur ein Spruch, der zweite verlangt, etwas näher erörtert zu werden.
Ich fasse diese Betrachtung als Übung auf.
Ich meine, sie hat das ihre geleistet, wenn ich nun ohne weiteres verstehe, wieso die drei folgenden Texte Gedichte sind, obwohl auch sie Zeilen tragen, die ich nicht als Verse anerkenne. (…) Mehr
Biografie Martin Bernhardt im Mail Artists Index:
Martin Bernhardt wurde am 22. Januar 1961 in Greifswald geboren und studierte dort gemeinsam mit Lutz Wohlrab Medizin. Er fotografierte und schrieb Gedichte. 1985 wurde er wegen “Verunglimpfung staatlicher Symbole” zu einer Haftstrafe von fünf Monaten verurteilt und anschließend für drei Jahre vom Studium ausgeschlossen. Mit Mail Art beschäftigte sich Martin Bernhardt seit 1985, später machte er auch Schmalfilme. Zunächst arbeitete er als Hilfskrankenpfleger, später schloß er sein Studium sowie die Facharztausbildung in Neurologie/Psychiatrie in Ueckermünde ab. Dort war er zuletzt Oberarzt in der forensischen Abteilung. Am 24. Oktober 2000 nahm er sich das Leben.