In Zürich selbst war ich schon recht gefordert. Nervös scannte ich die Wegweiser und fand dann auch das Schild, das mir die Richtung nach Chur verriet. "Gott sei Dank, ich bin richtig!" dachte ich und fuhr fröhlich weiter.
Es dämmerte bereits und die Nacht kam unaufhaltsam näher. So langsam veränderte sich die Landschaft. Die Berge wurden immer mehr und auch immer höher! Die Straßen wurden kurviger, hatten mehr Steigungen und mehr Gefälle. So langsam begann ich zu begreifen, dass diese Strecke für eine allein reisende Frau, die schwanger war und ein Kleinkind bei sich hatte, nicht unbedingt ein Spaziergang werden würde.
Ich fuhr und fuhr immer weiter in die Nacht hinein.
Irgendwo nach Zürich passierte es. Ich übersah wohl einen Wegweiser, der mir die Strecke zum San Bernardinotunnel hätte zeigen sollen. Ich merkte es viel zu spät. Zur Umkehr traute ich mich nicht mehr. Es war mittlerweile stockdunkel, die Strassen waren immer enger und kurvenreicher geworden. Außerdem waren sie für meine Begriffe sehr schlecht befestigt. Die Abhänge an der Straße waren angsteinflößend steil, ich bemerkte es jedesmal, wenn ich zur Seite schielte und irgendwo ganz weit unten die Lichter eines Ortes sah. Auf dieser engen Straße zu wenden, nein, das traute ich mir beim besten Willen nicht zu. Also umklammerte ich krampfhaft das Lenkrad und fuhr einfach immer weiter geradeaus. Irgendwo muss ja die Grenze kommen, dachte ich immer, irgendwo hört die Schweiz doch auf.
Kein Zweifel, ich war irgendwo in den Schweizer Alpen unterwegs und hatte keinen blassen Schimmer, wo genau ich mich befand. Ich hatte mich hoffnungslos verfahren.
Kilometerweit schlängelte sich die Landstraße wie ein schmales Band am Berg entlang. Kein Auto war in Sicht. Ich war mutterseelenallein mit meiner Tochter und dem ungeborenen Baby. Mutterseelenallen? Nein, das stimmte nicht ganz. Immer wieder fielen mir am Berghang Augen auf, die uns anglotzten. Entweder waren es Ziegen oder Kühe, ich weiß es nicht, es war einfach zu dunkel, um das genau zu erkennen.
Mir wurde immer mulmiger zumute. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen! Jetzt bloß keine Panne kriegen! Bitte bitte lieber alter Golf, lass mich nicht hängen! dachte ich immer wieder. Eine Panne wäre eine Katastrophe gewesen. Im Zeitalter vor Handy's, Facebook und Laptops mit WLAN hätte ich keine Chance gehabt, Hilfe zu holen oder auf uns aufmerksam zu machen. Es war wirklich eine gottverlassene Gegend, die wir durchfuhren. Bis uns per Zufall jemand gefunden hätte, wer weiß, wieviele Stunden das gedauert hätte!
Bianca bekam von dem allem nichts mit - sie schlief tief und fest.
Irgendwann - mir kam es wie eine Ewigkeit vor - fand ich wieder einen Wegweiser. GottseiDank! Wo ein Wegweiser ist, da ist auch ein Ort mit Menschen! Und auf dem Wegweiser musste doch auch draufstehen, wo es nach Italien geht!
Naja, Italien stand nicht drauf, ... aber St. Moritz!
St.Moritz! Die Stadt der Reichen und Schönen! Auch nicht schlecht, dachte ich. Jetzt kannst Du wenigstens von Dir behaupten, dass Du auch mal in St. Moritz warst! Wenn auch ausversehen!
Es waren noch einige Kilometer bis dahin. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie ich mich freute, als ich die Lichter von St.Moritz sah! Endlich war ich wieder in der Nähe der Zivilisation!
Ohne anzuhalten durchfuhr ich das schöne St. Moritz und hielt mich Richtung Sondrio. Weil das so italienisch klang und ich Italien dort vermutete. Und ich hatte recht! Bei Sondrio überquerte ich die Grenze. Ich hatte Italien gefunden! Ich hatte es beinahe nicht mehr zu hoffen gewagt.und war unendlich erleichtert.
Die Autobahn war dann schnell gefunden und beim nächsten Autogrill fragte ich nach dem Weg nach Cremona. Von da an lief alles reibungslos und nach 11 (!) Stunden Fahrt, morgens um ca.5 Uhr waren wir in unserer bald neuen Heimat angekommen.
Doch unsere Odysee ging weiter! Erstaunt stellte ich fest, dass Cremona eine schöne, alte, und vor allem doch recht große Stadt war. Mit meinen spärlichen Informationen, nämlich dass der Name der Strasse, in der Italo wohnte, mit "R" anfing, würde ich nicht weit kommen. Was also tun? "Ich fahr erst einmal ein bisschen durch die Stadt." war mein erster Gedanke. Wer weiß? Vielleicht würde ich ja per Zufall seinen ziitronengelben Renault 12 mit deutschem Kennzeichen finden.
Gesagt, getan! Ich startete an einem Platz, in dessen Mitte eine wunderschöne, sehr hohe und beleuchtete Wasserfontäne war. Cremona war noch ziemlich verschlafen. Es waren kaum Autos unterwegs. Auch ein paar wenige Vespa's knatterten stinkend und eine blaue Abgaswolke hinter sich ausstoßend durch die leeren Straßen.
Ein paar Hundert Meter weiter! Das erste "Senso unico"-Schild. Eine Einbahnstraße! Ok. Ich fuhr links. An der nächsten Kreuzung erneut eine Einbahnstraße. Mist! Wohin jetzt? Ich entschied mich für eine Richtung und fuhr wieder ein paar Hundert Meter... um zum nächsten Einbahnstraßenschild zu gelangen!
So ging es weiter. Ich weiß nicht, wie viele Einbahnstraßen ich gefahren, bzw. nicht gefahren bin, Fakt ist, dass ich ein paar Minuten später wieder an dem schönen Platz mit der Wasserfontäne rauskam! Italo's Auto hatte ich natürlich nicht gefunden. Ich hatte auch kaum eine Chance, nach dem Auto zu schauen, so sehr musste ich meine Aufmerksamkeit auf die Einbahnstraßen lenken, damit ich nicht ausversehen in eine in der verbotenen Richtung einbog.
Also gut! Das war der erste Versuch. Beim zweiten Versuch klappts bestimmt besser, dachte ich. Doch weit gefehlt! Auch dieser Versuch endete wieder am Wasserfontänen-Platz. Ebenso wie der nächste... der übernächste... und der letzte Versuch, den ich unternahm.
So würde ich Italo nie finden. Das war mir nun unmissverständlich klar geworden. Also entschied ich mich, auf einen Parkplatz zu fahren und zu warten, bis Italo zur Arbeit musste. Dann würde ich ihn aus einer Telefonzelle anrufen und ihm sagen, dass ich da war.
Ein Parkplatz war schnell gefunden. Ich verriegelte beide Autotüren und benutzte den Liegesitz. Bianca schlief immer noch tief und fest. Nur ein paar Minuten die Augen zumachen wollte ich. Ich war am Ende meiner Kräfte angekommen und unendlich müde. Nur ein paar Minuten... dann döste ich ein.