Eliten sind Teil des Problems

Der Bielefelder Soziologe und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer über Leben in der Krise als Dauerzustand, die Abschaffung von Kindheit und Jugend und seine Skepsis gegenüber den Stimmungs-Patrioten bei der Fußball-Europameisterschaft.

Auszüge:

Professor Heitmeyer, in Ihrer Langzeitstudie über die „Deutschen Zustände“ haben Sie alarmierende Fakten darüber zusammengetragen, wie die Gesellschaft mit schwachen Gruppen umgeht. Vieles davon ist aktuell wie nie. Gilt für Sie als Soziologe der Satz: Krisenzeiten sind gute Zeiten?

Ich gehe mit dem Begriff der Krise zurückhaltend um, weil er sonst inflationär wird und sich abnutzt. Er ist dann angebracht, wenn bei nachlassendem Druck der vorherige Zustand nicht wieder hergestellt werden kann. Und das ist im Hinblick auf die Finanzkrise der Fall. Sie hat den Druck im gesellschaftlichen Gefüge verstärkt. Zugleich sind die Auswirkungen nicht sofort sichtbar, weil es sich um schleichende Prozesse handelt wie die Ökonomisierung des Sozialen, die Demokratie-Entleerung und auch eine spezifische Orientierungslosigkeit, wohin sich die Gesellschaft entwickelt.

Ist es denn nicht das Wesen jeder Veränderung, dass die Dinge hinterher anders sind als vorher?

Schon. Aber Sie blenden bei dieser lapidaren Betrachtung aus, dass es Gewinner und Verlierer der Veränderungen gibt. Die OECD bescheinigt gerade dem reichen Deutschland seit längerem eine massive Zunahme sozialer Spaltung durch eine immer größere Ungleichheit der Einkommen. Wachsende Ungleichheit aber ist für jede Gesellschaft auf Dauer zerstörerisch. Ich kann nicht erkennen, dass die Politik dieser Entwicklung aktiv begegnet. Sonst müsste es zum Beispiel eine andere Steuerpolitik geben. Zudem haben wir Glück gehabt, dass die verschiedenen Krisen zeitlich „gestaffelt“ und nicht kumulativ aufgetreten sind.

Was können Sie über diese Strategien sagen?

Ganz typisch ist erstens eine Aufspaltung der Realität. Viele Befragte sagten: „Der Gesellschaft geht es schlecht, aber mir persönlich geht es gut.“ Man errichtet also ein Schutzschild positiver Gefühle und Selbstbeschreibungen um sich. Zweitens gibt es eine gegenteilige Strategie, das sind kollektive Schuldzuweisungen. So ist es kein Zufall, dass in der Finanzkrise plötzlich wieder die „jüdischen Banker von der US-Ostküste“ als Drahtzieher ausgemacht wurden. Und drittens ist da die immunisierende Fiktion, selbst zu den Gewinnern zu gehören – in einer Siegergesellschaft auf der Seite der Verlierer zu stehen oder sich selbst als Loser zu sehen, ja, das ist das Schlimmste, was einem passieren kann, das darf man nicht zulassen. Schon allein wegen des Ansehens in der nahen sozialen Umgebung.

Mit der Konsequenz, dass sich keiner mehr zu Fairness verpflichtet fühlt?

Keiner ist übertrieben, aber es greift in der Tat eine Entmoralisierung um sich. Das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen wird aufgekündigt. Das heißt, man wertet andere Menschen ab, insbesondere schwache Gruppen, um sich selbst aufzuwerten. Und die Maxime „Rette sich, wer kann“ gewinnt an Bedeutung. Übrigens ist das ein wesentlicher Grund dafür, dass es insgesamt bislang kaum zu nennenswerten kollektiven Protesten gekommen ist. In einer individualisierten Gesellschaft entsteht dafür kein Bewusstsein mehr.

Bei den Occupy-Protesten, zuletzt in Frankfurt, gingen immerhin Zehntausende auf die Straße.

Gegen Ansätze wie die Occupy-Bewegung ist die Staatsmacht, speziell in den USA, mit einer martialischen Kontrolldrohung vorgegangen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich konnte das in New York selbst beobachten. Das ist die praktizierte staatliche Verlängerung des autoritären Kapitalismus. Und das Signal gerade an junge Leute ist klar: „Bewegt euch ja nicht! Sonst kriegt ihr richtig Ärger.“

Warum schreckt das heute viele junge Menschen ab – anders als etwa bei Ihrer Generation, den 68ern?

Das ist überhaupt nicht vergleichbar, weil der Entscheidungsdruck auf junge Leute so immens zugenommen hat: Was sie auch tun oder lassen, es kann ihnen die ganze Lebensplanung zerhacken. Aus der Freiheit der Entscheidung ist eine permanente Last geworden, weil die Konsequenzen individuell zu tragen sind – von klein auf. Die Bedingungen auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt ändern sich immer schneller. Die Lebenswege werden immer unberechenbarer. Junge Leute wissen heute vielfach nicht mehr, wofür sie sich entscheiden sollen. So werden wir alle kleinlaute Zeugen einer Abschaffung von Kindheit und Jugend. Eigentlich ein Skandal, den aber kaum jemand im Hamsterrad der Konkurrenz öffentlich thematisieren mag, um nur ja nicht schon vorweg als „Gutmensch“ abgewatscht zu werden.

Können sich die Mächtigen bei uns zurücklehnen, weil ihnen das Volk keine Scherereien machen wird?

Im internationalen Vergleich ja. Zumal kollektiver Protest für den Einzelnen immer mit einem persönlichen Risiko verbunden ist. Selbst als bloßer Mitläufer kann ich in Situationen kommen, die außer Kontrolle geraten, und habe dann womöglich eine Vorstrafe am Hals und andere unangenehme Dinge, die wiederum meine ganze Lebensplanung über den Haufen werfen können. Da verliere ich am Ende mehr, als ich je hätte gewinnen können.

Sie meinen tatsächlich, ein junger Demonstrant kalkuliert heute, ob er als Landfriedensbrecher nach Hause kommt?

Nicht in der Situation selbst, aber vorher schon. Das ist eine völlig normale rationale Abwägung.

Wie ist es heute um die politische Kultur in Deutschland bestellt?

Es gibt eine fortschreitende Demokratie-Entleerung. Der politische Betrieb läuft, wie geschmiert sogar. Das ist schon für sich genommen ein Problem. Aber hinzukommt: Die Substanz der Demokratie wird ausgezehrt. Ein oberflächlicher Indikator dafür ist die geringe Wahlbeteiligung. Dahinter liegt ein Verlust an Vertrauen in die demokratischen Institutionen, sie ist Ausdruck des Gefühls, von der Politik nicht wahrgenommen zu werden. Das ist ein schleichender Prozess, über den kaum geredet wird. Eigentlich müssten die politischen und gesellschaftlichen Eliten eine Debatte darüber anstoßen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Das werden sie aber tunlichst vermeiden.

Warum?

Erstens sind Eliten inzwischen nicht mehr unbedingt Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Familie, die Sortierung von Menschen nach Nützlichkeit, wird ja wesentlich durch die Unterstützung eines autoritären Kapitalismus durch Eliten vorangetrieben. Und zweitens haben Eliten selbst keine Idee davon, wie die Gesellschaft in Zukunft aussehen soll.

Zur Fußball-EM wird es im Land wieder von Deutschlandfahnen schwingenden Patrioten wimmeln.

Von Stimmungs-Patrioten, ja. Dahinter ist aber kaum Substanz. Wir haben nach dem berühmten Sommermärchen 2006 und dem kollektiven Taumel vom neuen, weltoffenen und fröhlichen Deutschland Studien angestellt, die zeigen: Von wegen alles wunderbar! Nix da! Als der Alltag wieder einkehrte, hatte sich überhaupt nichts geändert. Die Fremdenfeindlichkeit war nach der „großartigen“ WM 2006 zum Teil stärker als vorher. Für diesen Befund sind wir schwer gescholten worden, nach dem Motto: „Ihr wollt uns wohl den Fußball kaputtmachen“. In Frankreich war es übrigens ganz ähnlich. Nachdem die Équipe tricolore, diese in jeder Hinsicht „farbige“ Truppe, 1998 Weltmeister geworden war, kehrte der sprichwörtliche Rassismus auch alsbald zurück.

Lassen Sie uns noch einmal der Frage nach einem Orientierungspunkt für unsere Gesellschaft nachgehen!

Zurzeit sind Kontrolle und Kontrollverlust Schlüsselbegriffe für die Selbstverständigung unserer Gesellschaft, weil keiner gern die Kontrolle über sein Leben verliert und ungern kontrolliert wird. Die Angst vor Kontrollverlust ist leicht übertragbar auf Institutionen und das politische System insgesamt. Das absurdeste Beispiel, wie der Staat auf die Erfahrung von Kontrollverlust reagiert, ist derzeit der Umgang mit der rechtsextremistischen Terrorzelle NSU.

Absurd inwiefern?

Weil die Untersuchungskommissionen die Fragen nach versäumter Überwachung der Täter, nach Fahndungspannen und Ausweitung künftiger Kontrollen so weit aufgeblasen haben, dass die Frage nach Entstehung, Unterstützern und Eskalationen verschwindet. Damit werden letztlich die Mörder abgetrennt von einer als ansonsten vermeintlich völlig intakt dargestellten Gesellschaft. Wenn wir den Kontrollapparat hochfahren, ist alles paletti! Dass man eine solche Vorstellung in die Welt setzen kann, ist eine abenteuerliche gesellschaftliche Selbsttäuschung!

In welche Richtung müsste eine gesellschaftliche Debatte gehen?

Wir sollten die gesellschaftliche Integrationsqualität für Alteingesessene und Zugewanderte gleichermaßen überprüfen. Wir müssen immer wieder neu überlegen, wie wir der Ökonomisierung des Sozialen entgegentreten können – gegen die Ideologie der Ungleichwertigkeit aufgrund von Kategorien wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz von Personen und Gruppen. Und ich frage: Wo bleibt eigentlich in Deutschland die produktive Unruhe für eine neue Kultur der Anerkennung?

Quelle und gesamtes Interview: http://www.fr-online.de/politik/konfliktforscher-eliten-sind-teil-des-problems,1472596,16292364.html



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