Wie kaum ein anderes Buch hat 2016 der Roman Meine geniale Freundin von Elena Ferrante für Aufmerksamkeit gesorgt. Warum eigentlich? Ein Stück weit war der Erfolg in Deutschland sicherlich voraussehbar. Schließlich feierten schon vor der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Suhrkamp-Verlag zahlreiche Leser in Italien und den USA die Italienerin, deren wahre Identität niemand kannte. Denn Elena Ferrante ist ein Pseudonym. In einem schriftlich geführten Interview schrieb die Schriftstellerin: „Ein Autor ist die Summe seiner literarischen Entscheidungen, aus denen sich seine fiktive Welt zusammensetzt. Der Rest ist banales Privatleben.“ Und eben dieses wollte sie sich bewahren. Ebenfalls wollte sie verhindern, dass auch in ihrem Fall etwas eintritt, das sie für falsch hält – nämlich dass oft der Schriftsteller als Person bekannter sei als sein Werk. Letztendlich wurde das Rätsel um die Autorin jedoch vom italienischen Journalisten Gatti gelöst. Das behauptet er zumindest. Angeblich soll es sich bei Elena Ferrante um die in Rom lebende Übersetzerin Anita Raja handeln. Die Reaktionen hierauf fielen sehr unterschiedlich aus – von beschwichtigenden Worten bis hin zum Aufschrei.
Aber zurück zum Buch – was macht die große Anziehungskraft dieses Romans aus? In den USA, wo der Roman ebenfalls große Erfolge feierte, kann das mit der italo-amerikanischen Leserschaft zusammenhängen, der das Buch einen Zugang zur Geschichte ihrer eigenen Vorfahren bietet. Aber Meine geniale Freundin ist nicht das erste Buch, das in Süditalien in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts spielt. Das gab es schon öfter. Was das Buch aber von anderen Erzählungen à la Mario Puzo unterscheidet, ist die Authentizität, die Unmittelbarkeit. Hier wurde kein Helden-Epos geschrieben, es geht nicht um Mafia-Dynastien, sondern um das Leben der einfachen Leute innerhalb der neapolitanischen Quartiere. Das Stadtviertel, in dem die beiden Protagonistinnen Lila und Elena leben, bleibt namenlos, beziehungsweise wird es „Rione“ genannt, was nichts anderes als eben Stadtviertel bedeutet. Elena Greco erzählt von ihrer Kindheit und Jugend und vor allem von ihrer Freundschaft zu der in jungen Jahren schmächtigen Schuster-Tochter Raffaela Cerullo, kurz Lila. Lila ist ein schmächtiges, wohl nicht sonderlich hübsches, vor allem aber unangepasstes Mädchen. Beide Freundinnen stammen aus einfachen, wenn nicht ärmlichen Verhältnissen. Beide haben einen Traum: erfolgreich und wohlhabend zu werden.
„Wir waren arm und mussten reich werden, wir hatten nichts und mussten es schaffen, alles zu haben.“
Während Lila, obwohl sie eine Musterschülerin ist, nicht weiter zur Schule gehen darf und in der Werkstatt ihres Vaters aushilft, kommt Elena sogar aufs Gymnasium. Zunächst bildet sich Lila auch ohne weiteren Schulbesuch und leiht eifrig Bücher aus der Bibliothek. Mit der Pubertät verändert sich nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Wesen und sie beschließt den Lebensmittelhändler Stefano zu heiraten. Auch eine Möglichkeit, um finanziellen Wohlstand zu erreichen. Elena wiederum schafft es tatsächlich und macht ihren Traum, Schriftstellerin zu werden, wahr. Der Preis dafür ist der Verlust der eigenen Wurzeln.
„Reichtum war nach wie vor ein Funkeln von Goldmünzen, die in unzähligen Kisten verschlossen waren, doch um zu ihm zu gelangen, brauchte man nur zu lernen und ein Buch zu schreiben.“
Meine geniale Freundin erzählt mehr als die Geschichte einer Freundschaft. Es ist mehr als ein Coming-of-Age-Roman, das Buch spiegelt vielmehr das Lebensgefühl einer ganzen Generation von (Süd-)Italienern wieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte der Marshall-Plan für ausgiebige Investitionen in Italien. Das Land war zuvor stark landwirtschaftlich geprägt. Was folgte, waren Jahre des Wirtschaftswachstums, des industriellen Fortschritts und des sozialen Aufstiegs. So wie sich Italien in den 1950er und 1960er Jahren veränderte, so verändert sich auch das Viertel bei Ferrante und mit ihm die Menschen, die dort leben. Nicht allen ist jedoch das Glück des Aufstieges beschieden und für viele, die den Süden verlassen, folgt die Entfremdung, der teilweise Verlust der neapolitanischen Identität und des Dialekts.
„Obwohl sie und ich auch weiterhin im selben Rione wohnten, obwohl wir dieselbe Kindheit gehabt hatten, obwohl wir beide in unserem sechzehnten Lebensjahr waren, lebten wir plötzlich in zwei verschiedenen Welten.“
Meine geniale Freundin ist ein lebendiges Buch, voller Wärme, voll Energie. Es ist ein liebenswertes Buch, ein liebevoller Blick auf die Menschen in Neapel. Ein Sittenbild der einfachen Menschen im Süditalien der Fünfziger Jahre mit all ihren Facetten, ihren Sorgen, Freuden und Eigenheiten. Mich haben neben Sprache und Atmosphäre des Romans die ausführlich beschriebenen Nebencharaktere beeindruckt, die mit ihren eigenen Geschichten und Beziehungen untereinander dazu beitragen, das Leben im Rione vorstellbar, ja, erlebbar zu machen. Ein Buch, das Lust auf mehr macht – ein Glück, dass die folgenden drei Teile von Ferrantes Tetralogie in Kürze auf Deutsch veröffentlicht werden.
Elena Ferrante
Meine geniale Freundin
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag
422 Seiten
22 EUR