Elementarteile - Ausstellung im Sprengel Museum Hannover, bis Ende 2021
Gesagt wird, dass die Hannoveranerinnen und Hannoveraner vor lauter Bescheidenheit - oder ist es ein Hang zur Unscheinbarkeit? - vergessen, selber ihre Stadt zu lieben. Sogar das weltweit berühmte Sprengel-Museum wird eher unterschätzt. Jetzt feiert es sein 40-jähriges Jubiläum mit rund 150 Werken ausschließlich aus eigenen Beständen und Dauerleihgaben. Vor 50 Jahren haben Margrit und Bernhard Sprengel - am 70. Geburtstag des Schokoladenfabrikanten - ihre gemeinsame Kunstsammlung der Stadt Hannover geschenkt und einen Millionenbetrag dazu für den Bau eines Museums. Das war zehn Jahre später, 1979, fertiggestellt; 1992 kam ein zweiter Bauabschnitt hinzu, 2015 ein Erweiterungsbau. Das Sprengel Museum Hannover beherbergt heute die Werke der Sammlungen der Landeshauptstadt Hannover, des Landes Niedersachsen und der Sammlung Sprengel, die nach 1900 entstanden sind. Hinzugekommen sind die Bestände der Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, des Kurt Schwitters Archivs, der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, der Rudolf-Jahns-Stiftung und anderer Stiftungen als Dauerleihgaben.
Die Kurator*innen Reinhard Spieler und Stella Jaeger konnten also aus dem Vollen schöpfen. Sie brauchten nur ein Thema zu finden, das die Auswahl bestimmt und zusammenfasst. Sie entschlossen sich, grundsätzlich die Elemente, aus denen Kunst entsteht, an Beispielen zu präsentieren. Sie gaben der Ausstellung die einfache, und doch tief reichende Überschrift "Elementarteile". Ganz glücklich bin ich mit dieser Überschrift nicht - denn sie kann zu dem Missverständnis führen, Kunst sei aus der Summe der Teile erklärbar. Das ist sie ja gerade nicht - es gehört geradezu zu dem Wesen der Kunst, dass künstlerische Werke als Ganzes wirken und sich nicht durch Zerpflücken erklären lassen. In zehn Räumen werden Fragen wie diese exemplarisch beantwortet: Was ist Kunst? Woraus besteht sie? Worauf bezieht sie sich? Wovon handelt sie?
Im 1. Raum geht es einleitend um die Geschichte des Museums: Dokumente, Verträge, sämtliche Publikationen zeigen die Entwicklung. Jedes Bild steht für eine der Sammlungen. Der 2. Raum ist der Farbe gewidmet. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Farbe mehr und mehr vom Zwang der wirklichkeitsgetreuen Darstellung befreit, sie wird zum selbständigen Motiv, ihre Eigenwertigkeit rückt in den Blick. Bei den Expressionisten wie Nolde und Kirchner wird die Farbe selbst zum Träger von Empfindung.
3. Raum - Material: Vorrangige Aufgabe des Materials war bis ins 20. Jahrhundert, den Ideen der Künstlerinnen oder Künstlern Gestalt zu verleihen. Kurt Schwitters war einer von denen, die das radikal geändert haben - er schuf ab 1919 Collagen aus Alltags- und Abfallmaterialien, die er "Merz-Kunst" nannte (s. Extrabericht). Das Material tritt mit seiner Vielfalt und Sinnlichkeit in den Vordergrund. Im 4. Raum wird das zentrale Thema Form behandelt, dem kaum Grenzen gesetzt sind. Die Bandbreite reicht von organischen, der Natur - scheinbar - verwandten Formen (z.B. Arp, Calder, Moore) bis zu technisch konstruierten Formen, die so in der Natur nicht vorkommen (wie bei Kandinsky oder Donald Judd). Den Wirklichkeiten ist der 5. Raum gewidmet. Viele Jahrhunderte hatte sich die Kunst immer an der sichtbaren Welt orientiert, in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts löst sie diese Bindung und rückt zunehmend ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten von Komposition, Farbe, Form, Farbe und Material in den Blick. Ein gutes Beispiel für die Verbindung von Fantasie und Realwelt, Natur und technischer Zivilisation ist die "Capri-Batterie" von Joseph Beuys. U.a. ist sie Symbol einer künstlerischen Suche nach Sehnsuchtsorten.
Geschichte(n) ist der 6. Raum überschrieben - mit anderen Worten: Wovon handelt die Kunst? Die Themenbandbreite reicht von der christlichen Ikonografie über Themen der Welt- und Zeitgeschichte bis hin zu ganz persönlichen Erlebnissen. Manchmal verschleiert oder tarnt die Geschichte die wirkliche Geschichte. Zum Beispiel kleidet Max Beckmann sein persönliches Schicksal im amerikanischen Exil in die biblische Parabel vom verlorenen Sohn. 7. Raum: Natur. Max Ernst, Paul Klee u.a. sind ins Exil gegangen, weil selbst "Natur"-Bilder als verdächtig galten. Für Expressionist*innen wurde die Natur zum Ausdrucksträger freier emotionaler Erfahrungen. Viele Künstler*innen der Moderne gestalten den Dialog zwischen Mensch und Natur im Anthropozän, dem Zeitalter extremer menschlicher Eingriffe in das Ökosystem. Die in Hannover lebende Künstlerin Julia Schmid (geb. 1969) verbindet minutiös gemalte Pflanzenbilder mit präzisen topografischen Aufzeichnungen. Lebensräume (8. Raum) meint zivilisierte Räume als Gegenwelt zur Natur. In Umberto Boccionis Schlüsselbild der Moderne "Die Straße dringt ins Haus" (2011) blickt eine alte Frau vom Balkon auf die neue, moderne Großstadt, die mit ihrer Dynamik über sie hereinbricht.
Große Gefühle (9. Raum): Die Kunst kann Ausdrucksplattform, Spiegel oder Seismograf sein für menschliche Empfindungen - für Freude und Liebe ebenso wie im Gegensatz dazu für Gewalt und Angst. Picasso stellt sich selbst als Opfer in Form eines Hahns dar, der von einer aggressiven Katze gerupft wird. Niki de Saint Phalle, in der Realität Opfer männlicher Gewalt, dreht als Künstlerin den Spieß um und präsentiert in "Portrait of my Lover" (1961) ihren Liebhaber als Zielscheibe. Die Auswahl im 10. Raum hat die Überschrift Gesichter. Das Bildnis des Menschen ist eines der ältesten Motive der Kunst überhaupt. Am Beispiel des Gesichtes lassen sich Eigenheiten eines Individuums ebenso darstellen wie Facetten der Gesellschaft. Ich kann hier nur wenige Beispiele anführen: Otto Dix zeigt seine Eltern als harte, ausgezehrte Arbeiter*innen, während Christian Schad in der gleichen Zeit "Lotte" als Glamour Girl der Goldenen Zwanziger vorstellt (Neue Sachlichkeit). Das menschliche Gesicht erscheint als Maske (Julio Gonzáles), als unscharfe Erinnerung (Gerhard Richter) oder als nüchtern und ungeschönt arrangiertes Bild der Gegenwart (Thomas Ruff).
Die Ausstellung ist ausgesprochen sehenswert und bietet unendliche Möglichkeiten zu eigenen "Erforschungen". Weitere Informationen auf der Seite des Museums.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover, unter Verwendung des Pressematerials. Die Bilder von oben nach unten: Emil Nolde: Der große Gärtner, 1940, Sprengel Museum Hannover, Foto: Herling / Herling / Werner, (C) Nolde Stiftung Seebüll; Joseph Beuys: Capri Batterie, 1985, Sprengel Museum Hannover, Foto: Herling / Herling / Werner, (C) VG Bild Kunst, Bonn 2019; Umberto Boccioni: La strada entra nella casa, 1911, Sprengel Museum Hannover, Foto Herling / Herling / Werner, Gemeinfrei.