El Pollo - Entscheidung in der Sierra Chica (mit langer Leseprobe)

Von Martin Gehring

Über das Buch:
Karl May war gestern, denn in der Sierra Chica sind die Hühner los! Eines Tages wird das kleine Dorf Carrizo von den Four Roosters, einer skrupellosen Ganovenbande heimgesucht. Die vier Hühnerbrüder fordern nicht nur die Wertsachen der Einwohner, sondern auch den Kopf El Pollos. Sancho, ein junger Gockel des Dorfes wird ausgesandt, um den sagenhaften Helden zu finden. Wie die Wahrheit über El Pollo sein Leben verändert, ob er sein Dorf retten kann und welche Rolle der Händler und Erfinder Monsieur Coq au Vin und die bezaubernde Tänzerin Esmeralda spielen, erfährt der Leser in „El Pollo – Entscheidung in der Sierra Chica“.
Mit „El Pollo – Entscheidung in der Sierra Chica“ versetzt der Autor Martin Gehring das (zu Unrecht) belächelte Genre des Western in eine neue Dimension und befreit es augenzwinkernd von seinem angestaubten Heftromanimage.  Spannung und temporeiche Action, gewürzt mit jeder Menge Humor sind das Rezept, mit dem er den Leser auf einen halsbrecherischen und vergnüglichen Ritt quer durch die Sierra Chica schickt.
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Über den Autor:
Martin Gehring, geboren am 01.03.1963 in Ulm kam über das Bloggen zum Schreiben. Auf seinem Blog veröffentlicht er regelmäßig neben eigenen lyrischen Werken auch Prosatexte. Zusätzlich postet er dort in loser Folge Cartoons, wobei er sich besonders der Hühner angenommen hat. Diese spielen auch auch in „El Pollo – Entscheidung in der Sierra Chica“  die Hauptrolle.
Im Herbst 2013 erscheint zudem mit „Notizen aus dem Oberstübchen“ ein Lyrik- und Erzählband aus der Feder des Autors; herausgegeben vom Manuela Kinzel Verlag als Taschenbuchausgabe.
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Carizzo
Wie eine Tortilla in der glühend heißen Pfanne lag die schier endlos scheinende Ebene der Sierra Chica schutzlos in der gleißenden Nachmittagssonne. Die Luft flimmerte in der Hitze, kein Windhauch regte sich und nicht eine Wolke war am Himmel auszumachen. Lediglich ein paar krumm gewachsene Kakteen mit kolossalen, nach Blutvergiftung aussehenden Dornen spendeten der Sierra hier und da etwas kümmerlichen Schatten, der seinen Namen allerdings nicht ernsthaft verdiente. Wasser war in der wüstenhaften Abgeschiedenheit der Sierra kaum zu finden, doch dafür gab es jede Menge Geröll und hier und da die ausgebleichten Knochen der Unglücklichen, die sich in ihr rettungslos verirrt hatten. Und es gab noch mehr Staub. Die ganze Sierra schien aus diesem lästigen gelblichfeinen Puder zu bestehen, das bei jedem Schritt aufwirbelte und sich auf den Kleidern, allen Gegenständen und in jeder noch so kleinen Ritze festsetzte. Mit einem raschen Schaben und Scharren verschwand zischelnd eine Schlange durch die Augenhöhle des grinsenden Schädels eines Klapperhasen, der hier vor langer Zeit verendet war. In der Tat war die Sierra Chica zur Mittagsstunde zweifellos der unwirtlichste Ort im gesamten Süden. Und dennoch existierte Leben und sogar ein Anflug von Zivilisation in dieser erbarmungslosen Einöde.
Am äußersten südlichen Rand der Ebene fand sich nämlich ein erbärmlich kleines, halb von feinkörnigem Sand verschüttetes Dorf namens Carrizo. Der Ort bestand aus einer ungepflasterten Straße, die auf beiden Seiten wie ein lückenhaftes Gebiss von windschiefen, mehr oder weniger nachlässig zusammengeklebt wirkenden Lehmhütten gesäumt war. An der Stirnseite des Campo thronte die einstmals stolze, doch nun verfallende Kirche Nuestro Huevo Sagrado mit ihrem schiefen und bröckelnden Turm, der so dermaßen einsturzgefährdet war, dass der Padre sich schon lange nicht mehr getraute, die scheppernde, gesprungene Glocke zu läuten, ohne Gefahr zu laufen, dass ihm die gesamte baufällige Architektur auf den Kamm krachen würde. Ein Saloon mit staubblinden Fensterscheiben und knarzenden Türflügeln, schräg gegenüber der Kirche gelegen, vervollständigte den Ort. Am Rand von Carrizo trotzten einige verdorrte Maisfelder mit ihrem kläglich raschelnden, braunen Gestrüpp elender Stängel der unerbittlich vordringenden Einöde. Am anderen, nicht sehr weit entfernten Ende des Dorfes lag die Koppel mit der Wasserstelle. Zu dieser Jahreszeit jedoch war der kleine Teich nichts weiter als ein brackig schlammiges Loch mit einer immer kleiner werdenden Pfütze lauwarmer, trüber Dreckbrühe. Im Schatten unter den dornigen Büschen rund um die Tränke drängten sich, gemeinsam mit Milliarden von Fliegen, einige Reittiere: Klapperhasen, die ihrem Namen gerecht werdend, unablässig mit ihren gelblichen Nagezähnen klapperten und ziemlich lustlos an den kleinen, harten Blättern der Sträucher mümmelten. Im Übrigen wirkte Carrizo wie ausgestorben. Alle Einwohner hatten sich zur Siesta in die kaum noch kühlende Dunkelheit ihrer Hütten zurückgezogen, um den Spätnachmittag abzuwarten. Kein Huhn, das auch nur einigermaßen Verstand hatte, wagte sich um diese Tageszeit ohne guten Grund auf die Straße und in die gnadenlose Sonnenhitze.
Nur Sancho hatte heute die Bürzelkarte gezogen und musste einsam die Mittagswache halten. Trotz der hohen Temperaturen stand er kerzengerade und pflichtbewusst, in Poncho und Sombrero gekleidet und bewaffnet mit einem rostigen und altertümlich verschnörkelten Trumm von Bohnenrevolver (den man besser als Totschläger oder Briefbeschwerer benutzt hätte, statt das unkalkulierbare Risiko einzugehen, ihn abzufeuern) auf dem windschiefen Aussichtsturm am Ortsrand von Carrizo oder besser gesagt, halb in der Sierra Chica, denn der Übergang verlief fließend und keiner klaren Grenzlinie folgend. Er beobachtete unablässig die mörderische Ebene, während ihm in der mittäglichen Gluthitze der Schweiß in Strömen aus seinem dichten, nachtschwarzen Gefieder sickerte und allmählich eine kleine Pfütze auf dem roh gezimmerten Holzboden der Plattform bildete. Liebend gerne hätte Sancho jetzt einen Schluck kühlen, erfrischenden Wassers und einen kleinen Körnersnack gehabt, doch er durfte seinen Wachposten nicht verlassen, bis die Ablösung eintraf.
Der Hahn hatte sich schon geistig darauf eingerichtet, dass er sich heute vermutlich wieder zu Tode langweilen würde, als er mit seinen scharfen Augen plötzlich weit entfernt eine Bewegung und dann einen kleinen, dunklen Punkt am Horizont ausmachte. Sancho war sich nicht sicher, ob er sich vielleicht getäuscht hatte; womöglich konnte der Punkt nichts weiter als eine Luftspiegelung sein, wie sie um diese Jahreszeit nicht besonders selten vorkam. Doch der Punkt verschwand nicht. Stattdessen blieb er und wurde allmählich immer größer. Dann löste er sich auf und verwandelte sich am Ende in vier Punkte, die sich, eine Staubfahne hinter sich herziehend, in hohem Tempo direkt auf Carrizo zubewegten. Sancho traute seinen Augen nicht. Vier Reiter, die auf das Dorf zukamen? Das konnte nur Ärger bedeuten. Er schnappte sich den geladenen Bohnenrevolver, der schwer auf dem Sitzbänkchen der Aussichtsplattform lag, kletterte hastig die lieblos zusammengenagelte und nicht sehr vertrauenswürdig wirkende Leiter hinunter und rannte flatternd mit wehendem Poncho, so schnell er konnte die Straße hinauf und über den Campo zur Kirche. Unterwegs verlor er seinen Sombrero, der im Staub der Hauptstraße ausrollte und liegen blieb. Als Sancho die Kirche erreicht hatte, stellte er sich vor die verzogene Eingangstüre des Hauptportals  und krähte, so laut er konnte:
„ALARM!“
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Der Überfall
Von einem Moment auf den nächsten war es mit der trägen Mittagsruhe in Carrizo vorbei. Die jäh aus ihrer Siesta gerissenen Einwohner stürzten, bewaffnet mit Knüppeln, Mistgabeln, Dreschflegeln, brennenden Fackeln, rostigen Säbeln und sogar einigen Bohnenrevolvern in unterschiedlich schlechten bis lebensgefährlichen Erhaltungszuständen aus ihren Hütten und Schattenplätzen. Die alarmierten Hühner fegten in Windeseile auf den Campo, wuselten dort eine Zeitlang orientierungslos durcheinander, um sich schließlich vor der Kirche zu versammeln. Schnatternd, gackernd und so hektisch mit den Flügeln schlagend, dass Federn in alle Richtungen stoben, diskutierten sie die bedrohliche Situation, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, weshalb der Wachposten überhaupt Alarm gegeben hatte.
Doch dann öffnete sich in all dem Trubel und Durcheinander die Kirchentüre und heraus trat mit würdevollem Schritt Padre Léon, das geistliche Oberhaupt von Carrizo. Der Padre war ein graubraunes Federvieh von Ehrfurcht gebietender Gestalt. Er hatte einen mächtigen, purpurroten Kamm auf seinem Haupt, prächtig glänzende Schwanzfedern und einen imposanten scharfen Schnabel zwischen seinen klaren Hühneraugen. Padre Léon trug eine dunkelbraune, wenngleich staubige Soutane aus grob gewirktem Stoff und vor seiner Hühnerbrust baumelte an einer Halskette ein silbernes Ei. Am Bauch wurde das Gewand des wehrhaften Padre von einem breiten Gürtel zusammengehalten, an dem neben einem Holster mit einem schön gearbeiteten Bohnenrevolver ein lederner Beutel mit Ersatzbohnen der blauen Sorte für das Magazin des Revolvers hing. So ausgerüstet betrat Padre Léon den Platz. Er hob leicht seine Fittiche und sofort kehrte unter der aufgeregten Einwohnerschaft von Carrizo Ruhe ein. Dann baute er sich vor dem eingeschüchterten Sancho auf, kratze ein wenig auf dem staubigen Boden herum und fragte ihn sodann streng:
„Mein Sohn, wie kommst Du dazu, zur Mittagsstunde, während der jedes ordentliche Huhn seine Siesta hält, hier vor die Kirche zu stürmen und lauthals Alarm zu schreien?“
„Vier Reiter, Padre. Und sie kommen in unser Dorf“, japste Sancho, noch ganz außer Atem.
„Bist Du dir da auch ganz sicher?“, fragte der Padre.
„Meine Augen haben mich noch nie getäuscht, Padre.“
„Du hast auch noch nie etwas gesehen, mein Sohn“, herrschte der Priester den armen Sancho an.
„Das stimmt, Padre“, antwortete Sancho kleinlaut.
„Trotzdem gut aufgepasst, mein Sohn“, sagte Léon großmütig, während er seine Soutane zurechtzupfte und sich hier und da ein paar Krümel von der letzten Mahlzeit abklopfte.
„Und jetzt, liebe Gemeinde, wollen wir unseren Besuchern zeigen, wie gastfreundlich wir sind und sie mit gebührendem Respekt in Carrizo willkommen heißen.“
Eine ganze Weile passierte nun nichts. Auf dem Campo vor der Kirche war es mucksmäuschenstill gewordenen. Die einzigen Geräusche waren das pausenlose Zähneklappern der Klapperhasen an der Tränke und das unaufhörliche Summen von Fliegen. Plötzlich bogen vier Reiter nebeneinander auf die Straße ein. Ein leichtes Raunen ging durch die versammelte Hühnerschar und manch ein entschlossener Hahn schloss seine Flügel fester um die Mistgabel oder den Dreschflegel. Die Küken versteckten sich unter den weit ausladenden Röcken ihrer Mutterglucken und spähten zugleich neugierig hinüber zu den Reitern. Was sie sahen, waren vier abgerissene graubraune Galgenvögel von Hühnern, die allesamt staubbedeckt und schlecht rasiert daherkamen. Das Quartett trug schäbige Cowboyhüte, speckige Lederwesten, vielfach geflickte und trotzdem löchrige Hosen und Stiefel mit glänzenden Sporen. An ihren Gürtel hingen eindrucksvolle Bohnenrevolver und allerlei Messer. Sie ritten betont langsam und lässig auf ihren Klapperhasen, die im Gegensatz zu ihren Reitern gepflegt waren und aussahen, als hätten sie erst kürzlich auf unfreiwillige Weise ihren Besitzer gewechselt. So gesehen passten sie damit überhaupt nicht zu dem restlichen Bild, das sich den überraschten und etwas verängstigten Bewohnern von Carrizo bot. Die Klapperhasen trugen links und rechts Satteltaschen, die den Eindruck erweckten, als wären sie mit allerlei Beute und illegal erworbenen Gütern vollgestopft. Geladene Maisgewehre, die ebenfalls an den Satteln der Nager festgemacht waren, vervollständigten die Ausrüstung der vier Desperados. Endlich erreichten die Reiter den Platz vor der Kirche und machten dort Halt. Einer von ihnen ritt ein paar Schritte weiter nach vorne und baute sich, stolz auf seinem Klapperhasen sitzend, direkt vor Padre Léon auf, der sogleich zu sprechen anhub:
„Wir haben nicht oft Fremde in Carrizo und trotzdem heißen wir alle freundlich willkommen. Doch sagen Sie mir, Señores, was führt Sie in unser abgelegenes Dorf?“
„Meine Brüder und ich haben Durst!“, knurrte der Anführer und blickte Léon scharf unter seinen buschigen Augenbrauen an.
„So sollt ihr zu trinken haben, meine lieben Freunde“ antwortete der Priester salbungsvoll.
„Pedro, mein Sohn“, rief Padre Léon quer über den Platz in Richtung Saloon.
„Bring den Herren hier etwas zu trinken, denn sie haben Durst.“
Sogleich war eine verstohlene Bewegung im Zwielicht des Saloons wahrzunehmen. Dann kam Pedro, der örtliche Schankwirt mit einer großen Holzkelle, gefüllt mit Wasser auf den Platz. Auf dem Weg verschüttete er dabei vor lauter Zittern eine nicht unbeträchtliche Menge des kostbaren Nass. Schließlich gelangte er aber doch halbwegs heil zum vordersten der Reiter und hielt ihm mit einem unterwürfigen „Señor“ die Kelle unter den Schnabel. Der Anführer nahm Pedro die dargereichte Kelle aus der Schwinge, roch misstrauisch an ihrem Inhalt, kostete einen kleinen Schluck, prustete und hustete und schleuderte dann am Ende angewidert das hölzerne Gefäß in den Straßenstaub.
„Wasser!“, spuckte der Reiter verächtlich in Richtung Pedro aus.
„Das ist etwas für euch elende Bande von Hungerleidern oder die Klapperhasen, aber nicht für meine Brüder und mich. Bring uns was Schärferes. Bring uns Tequila, aber ein bisschen rapido, wenn ich bitten darf.“
„Señor, wir haben hier keinen Tequila“, sagte Pedro mit einem verschlagenen und zugleich ängstlichen Seitenblick auf Padre Léon. Dieser beeilte sich, in belehrendem Ton hinzu zu fügen,
„Meine Herren Reisende. Wir sind überaus stolz, behaupten zu dürfen, dass wir das einzige Dorf zwischen hier und Mexiko sind, das den Teufel Alkohol mit Stumpf und Stil ausgerottet hat. Sie müssen also, so leid es mir tut, mit unserem hervorragenden Quellwasser vorlieb nehmen.“
Während er dies sprach, überhörte er großzügig vereinzeltes Murren über die örtliche Alkoholregelung aus den Reihen seiner frommen Hühnlein, nahm sich aber insgeheim vor, diesen Missstand auf die Liste seiner nächsten Sonntagspredigt zu setzen.
„So so, ausgerottet. Wollen wir doch mal sehen, wer hier gleich ausgerottet wird. Habt ihr überhaupt die leiseste Ahnung, wen ihr vor euch habt?“, krähte der Anführer, fuchsteufelswild geworden, zog mit einer blitzschnellen, kaum sichtbaren Bewegung seinen Bohnenrevolver und schoss zweimal, laut ploppend in die Luft.
„Nicht? Dann will ich es euch sagen. Die unfreundlich blickenden Gentlemen hinter mir sind Bill, Joe und Bob. Und ich bin John Rooster. Gemeinsam sind wir als Die Four Roosters bekannt. Na, geht euch unterbelichtetem Federvieh jetzt ein Licht auf?“
Die Menge erstarrte. Die Four Roosters waren die berüchtigste Gangsterbande in weitem Umkreis. Auf ihr Konto gingen unzählige Überfälle auf Banken und Postkutschen, die heimtückische Entführung junger unschuldiger Hühnerladies samt Erpressung von Lösegeld sowie jede Menge Zechprellereien in den Saloons der Umgebung, wilde Schießereien, Diebstahl von Klapperhasen und allerlei anderen beweglichen Gütern. Die vier Brüder versetzten jeden, der mit ihnen zu tun hatte, in Angst und Schrecken und in 17 Staaten waren hohe Kopfgelder auf die Ergreifung der Pistoleros, tot oder lebendig, ausgesetzt. Mancher vorwitzige Sheriff, der es sich in sein übergeschnapptes Hühnerhirn gesetzt hatte, die Four Roosters zu schnappen, hatte seinen Wagemut teuer bezahlen müssen. Und nun waren Bill, Joe, Bob und John Rooster in Carrizo eingefallen. Das roch ganz gewaltig nach Ärger. So sah es auch Padre Léon, der sich jedoch den Schreck nicht anmerken ließ   und mit fester Stimme sprach:
„Meine Herren Rooster. Wir leben hier am Rand der Sierra Chica seit Generationen als arme Campesinos von unserer Schwingen Arbeit. Was also wollen Sie von uns, wo es hier doch nichts zu holen gibt?“
„So so, ihr habt also nichts“, sagte John mit einem sehr bedrohlichen Unterton.
„Da lachen ja die Hühner. Los, rückt eure Wertgegenstände und euer Gold heraus. Und wenn wir zufrieden sind, ziehen wir vielleicht ab, ohne euer elendes Kaff in Brand zu stecken.“
„Was für Gold? Welche Wertsachen? Señor Rooster, Sie sehen doch, wie mittellos wir sind. Wir haben nicht einen lumpigen Peso in unseren Taschen“, antwortete der Priester.
„Schnabel halten!“, fuhr John Rooster dazwischen.
„Was ist denn das für ein Ei, das da um deinen Hals hängt? Das sieht mir ganz nach Silber aus. Her damit!“
„Señor, das kann ich Ihnen nicht geben. Das ist ein heiliger Gegenstand. Dieses Ei darf nur ein Padre tragen. Und ich bin ein Padre“, entgegnete Léon furchtlos.
„Das werden wir ja sehen.“
Der Ganove wandte sich zu seinen Brüdern um und befahl ihnen:
„Vorwärts, schnappt euch die Krähe und rupft sie ordentlich.“
Das ließen sich Bill, Joe und Bob nicht zweimal sagen. Sofort saßen sie von ihren Klapperhasen ab und gingen breitbeinig, den Kamm voraus, auf den verdutzten Padre Léon zu. In diesem Augenblick stürzte ein Küken unter dem Rock seiner Mutterhenne hervor, fuchtelte dabei wild mit einem, aus einem Stück Holz geschnitzten Spielzeugrevolver und nahm hin- und hüpfend vor dem Gangsterboss Aufstellung:
„PENG, PENG!“, fiepte das Küken.
„Haut ab, ihr blöden Ganoven, sonst schieße ich euch alle tot. PENG, PENG! Wartet nur, wenn El Pollo wieder nach Hause kommt, dann macht er euch fertig. El Pollo ist der Größte. PENG, PENG!“
„So so, El Pollo also“, antwortete John mit einem leichten, ins Sadistische gehenden Lächeln.
„Mein Kleiner, ich zeige dir mal, was ich mit deinem großen El Pollo mache, wenn ich ihm begegne.“
Wieder hob er seinen Bohnenrevolver, zielte lässig und setzte dem Küken ein paar blaue Bohnen vor die nackten Krallen. Das Kleine piepste kreischend auf, ließ seine Spielzeugpistole auf der Stelle fallen und rannte, so schnell es konnte, wieder unter den schützenden Rock seiner Mutter zurück. Die drei restlichen Brüder hatten kurz innegehalten. John erhob sich aus seinem Sattel, so dass ihn jedes Huhn auf dem Campo sehen konnte, warf einen, nichts Gutes verheißenden Blick auf die angstvoll zusammengedrängte Menge und begann mit lauter Stimme zu sprechen:
„Und nun hört mir mal genau zu. Wir machen jetzt Folgendes: Als erstes werden wir den vorlauten Padre da rupfen, damit ihr seht, dass wir es ernst meinen. Damit wollen wir es für dieses Mal gut sein lassen. Aber freut euch nicht zu früh. Zum nächsten Hühnermond kommen wir zurück. Dann liefert ihr uns euren ganzen Besitz aus. Aber das ist noch nicht alles. Ich kenne El Pollo, den alten Trunkenbold gut. Sehr gut sogar. Wenn ich mich recht erinnere, hat er einmal im Vollrausch erzählt, dass er aus diesem elenden Drecknest hier stammt. Und ich habe mit dem Mistkerl noch ein, zwei Hühnchen zu rupfen. Wenn wir also demnächst hierher zurückkehren, werdet ihr uns auch noch El Pollo geben, da wir sonst das ganze Dorf niederbrennen.“
Nach dieser kurzen aber eindrucksvollen Ansprache wandte er sich an seine wartenden Brüdern und sagte in bedrohlichem Tonfall:
„Und jetzt bringt mir das verdammte Ei und die Schwanzfedern von unserem kleinen Priester hier.“
Mit diesen Worten stürzten sich Bill, Bob und Joe auf Padre Léon. Dieser wehrte sich nach Leibeskräften, trat und schlug wild gackernd um sich, doch gegen die drei Rooster-Brüder hatte er keine Chance und sie hatten ihn alsbald überwältigt. Als sich der aufgewirbelte Staub verzogen hatte, lag der arme Padre ziemlich zerrupft auf der Straße. Die Roosters hatten ihm während des heftigen, aber kurzen Kampfes die Schwanzfedern ausgerissen, die sie sich nun triumphierend an ihre Hüte steckten. Bill gab John dümmlich grinsend ebenfalls eine der Schwanzfedern des Priesters und überdies das silberne Ei. Der Älteste hängte sich, fies lachend, das Schmuckstück um den Hals, deutete darauf und sagte zu Léon, der sich mühsam aus dem Staub erhob und allen anderen Hühnern auf dem Platz:
„Das war nur die Anzahlung. Bald sehen wir uns wieder. Los Jungs, wir verschwinden. Adios.“
Die drei Brüder kletterten in die Sättel ihrer  Klapperhasen, dann wendeten Die Four Roosters ihre Reittiere und hoppelten donnernd in einer Staubwolke aus Carrizo heraus und zurück in den Glutofen der Sierra Chica.
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Die Unterredung
Die Abenddämmerung senkte sich über Carrizo. Fast nichts erinnerte mehr an die unerfreulichen Ereignisse des frühen Nachmittags. Die Hähne des Dorfes saßen im Saloon zusammen und warteten auf Padre Léon. Dieser hatte sich nach dem vorläufigen Abzug der Four Roosters in die kühle Abgeschiedenheit seiner Kirche zurückgezogen, dabei etwas von „frisch machen“ gemurmelt und für später eine Dringlichkeitssitzung anberaumt. Pedro, der Wirt kam mit einem Krug an den einzigen, wackligen Tisch des Saloons und schenkte im Dämmerschein einer Talgkerze eine Runde Tequila aus. Alle blickten zur Türe des Etablissements und erhaschten ein stummes Nicken von Jorge (dem einzigen Abstinenzler im ganzen Ort), der dort Wache hielt. An der Kirche gegenüber rührte sich nichts. Die Luft war rein, also prosteten sich die Hähne mit einem verwegenen Sammelsurium blind gewordener Gläser und gesprungener Tonbecher zu und stürzten den Tequila nach einem geflüsterten Salud! in ihre ausgetrockneten Kehlen.
Sie hatten gerade ausgetrunken, als Jorge ein leises „Achtung, er kommt!“ in den Schankraum wisperte. Sofort versteckte Pedro den Tequilakrug unter der Theke und stellte stattdessen mehrere Gefäße mit Wasser auf den Tisch. Die Gäste schenkten sich ein und kauten noch schnell ein paar getrocknete Pfefferminzblätter, damit Padre Léon den Alkoholgeruch nicht bemerkte. Die Flügeltüren öffneten sich und der lädierte Geistliche betrat leicht humpelnd und misstrauisch schnüffelnd den Saloon. Er setzte sich an den Tisch zu den schweigenden, nach Pfefferminz duftenden Gockeln und schenkte sich einen Becher Wasser ein. Dann nahm er seufzend einen tiefen Schluck und hub dann an zu sprechen:
„Ganz tolle Vorstellung heute Mittag, meine Herren Hähne. Da werde ich von einem Dreiviertel der Four Roosters nach Strich und Faden vermöbelt, man reißt mir mit Gewalt die Schwanzfedern aus und beraubt mich zu allem Überfluss auch noch meines Silbereies. Und was macht ihr? Ihr steht herum wie eine Bande feiger Hühner und lasst alles geschehen. Sogar das Küken war mutiger als ihr und hat sein Leben riskiert.“
„Padre, wir haben uns so vor den Ganoven und ihren Bohnenrevolvern gefürchtet“, sagte einer der älteren Hähne und blickte beschämt zu Boden.
„Papperlapapp!“, entgegnete Padre Léon, wütend mit einem Flügel fuchtelnd.
„Im Heiligen Buch steht schon geschrieben: Ein Huhn helfe dem Anderen, auf dass ihm geholfen werde. Und was habt ihr Hühnerfüße getan? Ihr habt mich schändlich im Stich gelassen.“
„Tut uns leid, Padre. Wie können wir unsere Schuld wieder gut machen?
„GARNICHT!“, donnerte Léon so laut, dass die Gläser auf dem Tisch wackelten.
„Aber darum kümmern wir uns später. Zuerst müssen wir überlegen, was wir mit den Four Roosters machen, falls das überhaupt in eure beschränkten Hühnerhirne hineinpasst.“
Jorge antwortete:
„Vielleicht sollten wir uns lieber darüber Gedanken machen, was diese Galgenvögel mit uns anstellen, wenn wir ihnen nicht unsere Wertgegenstände und außerdem noch El Pollo ausliefern.“
„Und wo sollen wir unsere Habseligkeiten nur verstecken?“
„Das dürfte das kleinere Problem sein. In der Kirche zum Beispiel. Die Ganoven werden sich bestimmt nicht an Nuestro Huevo Sagrado heranwagen. Da wird unser Padre schon dafür sorgen. Ich sage euch, was uns viel mehr Kummer bereiten sollte: Dieser El Pollo ist nicht da und wir haben auch keine Ahnung, wo er stecken könnte“, sagte Enrico, ein lispelnder junger Hahn, den man nur mit einem Stück Bindfaden sah, an dem er kunstvolle Knoten übte.
„Dann müssen wir diesen verdammten El Pollo eben schleunigst suchen und hierher schaffen“, krähte der Padre ungeduldig während er sich zugleich reumütig für das „Verdammt“ beeite.
„Und wenn er nicht will?“
„Tja, wenn er nicht will, müssen wir ihn eben zwingen. Das Schicksal von Carrizo steht auf dem Spiel.“
„Vielleicht hilft er uns ja, wenn wir ihm erzählen, wie schlimm es um sein Heimatdorf steht“, warf Pedro aus dem Hintergrund ein.
Der Padre wand sich während der Pause, die nun folgte, hin und her und scharrte nervös mit den Krallen auf dem Lehmboden des Saloons. Mit schlechtem Gewissen sagte er daraufhin:
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob wir El Pollo dazu bringen können, uns zu helfen.“
„Und warum nicht?“, fragten die anderen erstaunt wie aus einem Schnabel.
„Nun ja, ähm hm“, erwiderte Padre Léon sichtlich bedrückt,
„El Pollo hat Carrizo nicht ohne Grund verlassen und ich bin in diesem Zusammenhang nicht ganz unschuldig. Ich war ein junger und unerfahrener Priester vom Orden „Zum Ei der Offenbarung“, als ich hierher versetzt wurde und El Pollo war der hiesige Platzgockel. Zuerst kamen wir ganz gut miteinander zurecht, doch im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass wir bezüglich einiger Fragen, welche die (maßvolle) Anwendung bestimmter Genussmittel in unserer Gemeinde betrafen, unterschiedlicher Ansicht waren. Das Ganze gipfelte in einer heftigen und lautstarken Auseinandersetzung, bei der das eine Wort das andere gab und an deren Höhepunkt wir uns fast in die Federn gerieten. Um es kurz zu machen: El Pollo beendete die Diskussion mit den Worten, dass ich ihm eiweise an den Kamm steigen könne, dass man an anderen Orten in derlei Angelegenheiten deutlich liberaler sei und überhaupt. Also packte er wütend seine Siebensachen, sattelte einen Klapperhasen und ritt für immer auf und davon. So, jetzt ist es raus.“
„Oha, das klingt jetzt aber gar nicht gut“, gackerte Enrico und nahm mit leicht angeekelter Miene einen winzigen Schluck Wasser aus seinem Becher.
„Das Huhn ist aber nun mal in den Brunnen gefallen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als El Pollo zu finden und ihn zu bitten, nach Carrizo heimzukehren“, sagte Pedro.
„Wer geht?“
Dieses „Wer geht?“ war genau das Stichwort, an dem jeder der anwesenden Gockel versuchte, sich möglichst unsichtbar zu machen. Alle drucksten herum, faselten dabei etwas von Huhn und Küken und der Ernte, die schleunigst eingebracht werden musste. Schließlich stand Sancho, der sich bislang im Hintergrund gehalten und noch kein Wort gesagt hatte, von seinem Stuhl auf. Er trat in den flackernden Schein der Kerze, während er verlegen seinen Sombrero in den Flügeln drehte und sagte, dramatisch beleuchtet:
„Ich gehe und finde El Pollo, auch wenn ich den Weg nicht kenne.“
„Dann ist es also beschlossen!“, verkündete Padre Léon mit einem Anflug von Pathos in der Stimme. Er erhob sich aufgrund seiner blauen Flecken ächzend und trotzdem würdevoll von seinem Platz, nickte zum Abschied stumm in die Runde und verließ den Saloon, während Pedro nach dem Tequilakrug unter der Theke griff.
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El Pollo
El Pollo war eine Gestalt von sagenhaftem Ruf. Wenn man den aberwitzigen Erzählungen und Spekulationen, die rund um die Sierra Chica kursierten, Glauben schenken durfte, war El Pollo mindestens doppelt so groß wie ein normaler Hahn. Er hatte pechschwarzes, in der Sonne blaugrün glänzendes Gefieder. Ein kolossaler roter Kamm mit einem Durchschussloch zierte sein mächtiges Haupt. El Pollo hatte stechend schwarze Augen und den spitzesten Schnabel ringsum. Er war stets einen schwarzen Poncho gekleidet und hatte einen gewaltigen, mit Silberfäden durchwirkten Sombrero der gleichen Farbe auf dem Kopf. Zudem sah man ihn nie ohne seine Gesichtsmaske. Um die Hüfte trug er einen breiten Patronengurt mit einer silberglänzenden, riesigen Gürtelschnalle, in die sein Porträt ziseliert war. Links und rechts hingen in ledernen, mit goldenen Nieten verzierten Holstern herrlich gearbeitete Bohnenrevolver, die stets gut geölt und schussbereit waren. Lederne Reitstiefel mit polierten Sporen komplettierten das Bild, das sich dem Betrachter von El Pollo bot.
Nicht minder spektakulär war sein Reittier. Es handelte sich dabei um einen nachtschwarzen, groß gewachsenen Klapperhasen von edlem Blute, der über die längsten und schärfsten Ohren in der ganzen Sierra verfügte. Das Tier konnte so unglaublich schnell hoppeln, dass El Pollo theoretisch in der Lage war, auf der Flucht jeden Verfolger abzuhängen, was jedoch nie geschah, da er nicht floh, sondern sich allen Gefechten stellte. Der Hase hatte strahlend weiße, hervorragend gepflegte Zähne, mit denen er rund um die Uhr klapperte. Sattel samt Taschen und Zaumzeug bestanden aus feinstem Leder, in welches die Geschichte des Heldenmutes von El Pollo in aufwändigen Bildern geprägt war.
Dass El Pollo unbestätigten Gerüchten zufolge neben all diesen vorgenannten Eigenschaften angeblich auch noch über unermessliche Reichtümer jenseits aller Vorstellungskraft verfügte, seit er auf verschlungenen Pfaden an eine Karte gelangt war, die den Weg zu einem vergessenen spanischen Münzschatz mitten in der Sierra Chica wies, soll in diesem Zusammenhang nur in einem Nebensatz Erwähnung finden.
Nicht umsonst rankten sich unzählige Mythen und Legenden um El Pollos glorreiche Taten. So zog er zum Beispiel so schnell, dass er aus dem einen Revolver eine Bohne abfeuern und diese mit der Bohne des anderen Revolvers aus der Luft abschießen konnte. Er hatte eine große Anzahl gefährlicher Ganoven und durchgedrehter Pistoleros zur Strecke gebracht und den Schwingen des Gesetzes überantwortet. So hatte er einmal eine Bande Hühnerhabichte, bekannt und gefürchtet unter dem Namen Los Azores, mit bloßen Flügeln erledigt, als sie über ein friedliches Dorf hergefallen waren, um es auszuplündern. El Pollo saß gerade in der örtlichen Taverne und wollte dort in aller Gemütsruhe den berühmten, landauf landab gepriesenen lokalen Tequila verkosten, als einer der Los Azores herein gestiefelt kam und mit einem gezielten Schuss aus seinem Bohnenrevolver den irdenen Trinkbecher von El Pollo in dem Moment zerschmetterte, als er gerade zum Trinken ansetzen wollte. Daraufhin wurde El Pollo wirklich ungemütlich. Er ärgerte sich dabei weniger über den zerstörten Becher, sondern viel mehr darüber, dass der kostbare Tequila seinen frisch gewaschenen und sorgsam gebügelten Poncho verkleckerte. Um es kurz zu machen: Die Habichte waren nach El Pollos Intervention so demoralisiert, dass sie auf der Stelle beschlossen, in ein Kloster einzutreten und fortan nur noch gute und gemeinnützige Werke zu vollbringen.
Ein anderes mal geriet El Pollo an einen wirklich üblen Gegner: Er ritt gerade gemütlich durch einen felsigen Ausläufer der Sierra Chica, als nicht allzu weit entfernt der ploppende Knall eines Bohnenrevolvers zu hören war. Die Bohne durchschlug El Pollos Sombrero und seinen Kamm und blieb in der Krempe seines Hutes liegen. Der Held sprang reaktionsschnell aus dem Sattel seines Klapperhasen und suchte hinter einem Felsen Deckung. Dort untersuchte er das Projektil, das ihn getroffen hatte. Es war eine gefleckte Feuerbohne, in die zwei Teufelshörner eingeritzt waren. Das Zeichen von El Diablo, dem übelsten und hinterlistigsten Desperado in der gesamten Sierra Chica.  El Pollo überlegte nicht lange, dann rief er in die Richtung, in der er seinen Widersacher vermutete:
„Buenos Dias, El Diablo. War das alles? Schick' mir doch noch ein paar Bohnen hinüber, damit ich mir zum Abendessen ein richtig scharfes Chili kochen kann.“
Nach einem kurzen Moment kam die Antwort:
„El Pollo, alter Sportsfreund. Als ob du ein brauchbares Chili kochen könntest. Ich wette mit dir, dass ich das schärfste Chili der Welt zubereite.“
„Mach dich nicht lächerlich, Diablo. Komm' nur rüber. Dein Chili wird dir wie ein laues Lüftchen vorkommen, wenn du meines erst gekostet hast. Ich rühre dir ein Chili zusammen, das dir dein Hühnerhirn in kleinen Stückchen aus dem Schädel bläst.“
„Das will ich sehen“, ließ sich El Diablo vernehmen.
„Wie wäre es mit einem Wettkochen. Jeder von uns kocht sein Chili und lässt den Anderen kosten. Gewonnen hat derjenige, dessen Chili schärfer ist. Abgemacht?“
„Abgemacht!“
Vorsichtig erhoben sich die beiden Streithähne aus ihrer Deckung und gingen aufeinander zu. Schnell waren die Regularien des Kochwettbewerbes vereinbart und schon bald brannten zwei kleine Lagerfeuer, auf denen die Gegner in jeweils einem Topf ihr Chili zubereiteten. Einen kurzen Moment zweifelte El Pollo daran, ob er den Wettstreit gewinnen könnte, denn El Diablo entrollte eine Decke, die eine Kollektion nie zuvor gesehener Chilischoten von so exorbitanter Schärfe enthielt, dass man schon allein von deren Anblick unkontrolliert zu schwitzen begann. Doch El Pollo schwor auf seine geheime Zutat. Vor Jahren hatte ihm ein Indiohuhn, das er etwas besser kannte und dem er sehr verbunden war, auf dem Sterbebett von der mexikanischen Gewürzspinne erzählt, einem geheimnisvollen und höchst seltenen Tier, das getrocknet und zerrieben so scharf war, dass man davon nur winzigste Mengen, gerade ein paar Körnlein in das Chili streuen durfte. Im Laufe der Zeit hatte sich El Pollo an das Gewürz gewöhnt und konnte, so abgehärtet, immer größere Mengen von dem mörderischen Teufelszeug vertragen. El Diablo beobachtete amüsiert El Pollos Bemühungen, ein ordentliches Chili zusammenzurühren. Normale Schoten, wie man sie auf jedem Markt rund um die Sierra Chica erstehen konnte, herkömmliche Bohnen, was daran sollte scharf sein? Doch in einem Moment, als Diablo gerade nicht hinsah war, gab El Pollo eine ordentliche Menge von dem Gewürzspinnenpulver, das er stets in einem kleinen Beutel an seinem Gürtel trug, in sein Chili, rührte gut um und kostete. Perfekt. Der Eintopf war fertig. Auch das Gericht des Gegners brodelte in seinem Topf vor sich hin und verbreitete ein köstliches Aroma. Nun ging es ans Kosten. El Pollo machte den Anfang: Er schöpfte sich einen ordentlichen Schlag von El Diablos Gebräu in seinen Napf und begann zu essen. Hm, gar nicht mal so schlecht. Von angenehm vollem Geschmack, mit ein bisschen Pfiff und einer süßlich fruchtigen Note, aber insgesamt von mangelnder Schärfe. Natürlich war das Chili, das El Diablo gekocht hatte, in Wirklichkeit höllisch scharf. So scharf, dass man für dessen Zubereitung normalerweise einen Waffenschein gebraucht hätte, doch dank seiner Gewürzspinnenkur war El Pollo Pikanteres gewöhnt. Um den Gegner nicht bloß zu stellen, tat er aber zumindest so, als wäre Diablos Chili ganz mächtig scharf und lobte es gebührend.
Nun war El Diablo an der Reihe. Siegessicher steckte er seinen Holzlöffel, gefüllt mit einem ordentlichen Schlag von El Pollos Spezialchili in den Schnabel und schluckte. In derselben Sekunde schoss unvermittelt ein wahrer Sturzbach von Tränen aus El Diablos Augen, während kochendes Blut in seinen kapitalen Kamm schoss. Er japste verzweifelt nach Luft und versuchte heiser, um Hilfe zu gackern. Der Schweiß lief ihm in Strömen aus den Federn, die an seiner Halskrause büschelweise auszufallen begannen. Er sprang auf und hüpfte wie ein Wilder um das Camp, während er mit heraushängender Zunge beängstigend hyperventilierte. Er kam flatternd auf El Pollo zu und konnte gerade noch ein feuriges, oder besser gesagt verbranntes „Du...“ keuchen, ehe er das Bewusstsein verlor. Als El Diablo Stunden später wieder zu sich kam, musste er neidlos anerkennen, dass El Pollo der Sieger war. Die beiden wurden gute Freunde, doch ein würziges, von El Pollo gekochtes Spinnenchili rührte El Diablo nie wieder an.
Über dies und vieles mehr machte sich der tapfere Sancho Gedanken, während er einsam in der Abgeschiedenheit der Sierra Chica an seinem kleinen Lagerfeuer kauerte und, begleitet vom Zirpen der Grillen, den Sternenhimmel betrachtete. Sancho war schon vor dem Morgengrauen aufgebrochen, nicht ohne eine ganze Litanei guter Ratschläge von Padre Léon zu bekommen. Ehe er los ritt, steckte der Priester Sancho noch heimlich einen abgegriffenen Peso zu (nicht ohne zu erwähnen, dass Sancho sich von dem Geld keinen Alkohol kaufen dürfe, es sei denn, er hätte vor, für alle Zeiten in der Hühnerhölle am Grillrost zu schmoren), segnete ihn dann im Namen des großen Hühnergottes und wünschte ihm eine erfolgreiche Reise und eine glückliche Heimkehr. Doch würde das Abenteuer gut ausgehen? Würde er El Pollo finden? Und falls ja, wäre El Pollo überhaupt bereit, bei der Rettung Carrizos vor den Four Roosters zu helfen? Sancho wusste, dass er nicht versagen durfte. In eine ungewisse Zukunft sehend, setzte er sich mit aufgeplustertem Gefieder und einem unguten Gefühl auf seine mitgebrachte Reisehühnerstange und ließ sich von den Geräuschen seines Reittiers in den Schlaf klappern.
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El Pollo - Entscheidung in der Sierra Chica