Eiskalt erwischt

Eiskalt erwischt

Piturrino fa de Music (c) DR

Was Carles Santos bei seinem Auftritt im Le-Maillon im Jänner gelungen ist, gelang vor ihm nur wenigen. Mich als Musikkritikerin nämlich eiskalt zu erwischen. Aber vielleicht doch lieber eins nach dem anderen. Sonst wäre diese Kritik ja auch schon wieder zu Ende.

Der 1940 geborene Katalane, bekannt für seine, lassen Sie es mich salopp ausdrücken, völlig unorthodoxe Art Musik zu machen und diese auch mit Theater zu verbinden, gilt als Künstler, dem man nicht trauen darf und der alle Regeln bricht, wenn er sie denn auch nur brechen kann.

So gesehen hätte ich ja gewarnt sein sollen, was seinen Auftritt in Straßburg betraf. Ihn inbegriffen, zählte man auf der Bühne genau ein Dutzend Musik machender Menschen, die sein Werk „Piturrino fa de music“ aufführte. Sie alle steckten, wie sich noch herausstellen sollte, unter einer Decke, inklusive dem Dirigenten Xavier Piquer, der ebenfalls zu den „Kollaborateuren“ zu zählen ist.

1 Stunde 10 Minuten sollte das Konzert laut Ankündigung dauern. Und das war auch tatsächlich so. Eine ganze Stunde lang lauschte ich andächtig den musikalischen Einfällen von Carles Santos und seinem Orchester, bestehend aus 4 Streichern, 5 Blechbläsern, 2 Percussionisten und ihm selbst am Klavier. Ich notierte brav eine Themenreihe nach der anderen, leitete im Kopf ab, wo seine Vorbilder zu finden sind usw. usw. usw. und kam mir noch enorm gescheit dabei vor. Beginnend von den Streichquartetten der zweiten Wiener Schule, über Dadaeinsprengsel, Anklänge an die Minimal-Art-Musik, bis hin zu Xenakis-Affinitäten sowie symphonischen Kleinarbeiten mit romantischen Wurzeln schrieb ich nieder, was ich hörte. Und zwischendrin mal, kurz, befiel mich ein sehr komisches Gefühl. Das sagte mir: Halli, hallo, ich sitze ja in einer Aufführung von Carles Santos, da sollte es doch noch ein wenig anders zugehen als in einem Konzert für zeitgenössische Musik! Aber wie das so ist im Leben, auf Bauchgefühle sollte man eigentlich hören und tut man das nicht, dann kann man sich schon mal auf allerlei Turbulenzen vorbereiten. Kurzum: ich tat es nicht und überging mein Bauchgefühl mit Bravour.

Und Turbulenzen waren es auch, die das Konzert, in dem einige ganz Nervöse schon nach einer halben Stunde begonnen hatten auf die Uhr zu sehen, schließlich zu Fall brachten.  Denn plötzlich, wie aus dem heiteren Himmel, ungefähr 10 Minuten vor Schluss, begann Santos zu brüllen, auf sein Klavier einzudreschen und immer wieder dieselbe spanische Parole  mitsamt seinen Kolleginnen und Kollegen zu skandieren. Die offene Revolution schien ausgebrochen, die „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke – in Musik umgesetzt – feierte fröhliche Urstände. So rasch einem der Mund aufgegangen war – so schnell ging er auch nicht mehr zu; denn: dann wurde mit Platzpatronen in die Luft geschossen, was das Zeug hielt, eine Glasscheibe ging zu Bruch, ein weißer Sack mit unbestimmtem Inhalt wurde vom Schlagzeuger aus quer über die Bühne geschleudert, sodass eine Geige fast daran zerbrach und auch der Dirigent war sich nicht zu schade, bei dem infernalischen Getöse brav mitzumachen und zum Publikum gewandt, in dasselbige zu brüllen. Nach einer anfänglichen Schrecksekunde war allen die Komik der Situation bewusst geworden und so ergötzte man sich ausgiebigst in den kommenden Minuten am allgemeinen Chaos auf der Bühne. Nachdem der im allgemeinen Tohuwabohu noch rasch aufgezogene Stoffhund seinen letzten elektronischen Beller getan hatte, die letzte Platzpatrone verschossen und der Schlussakkord verklungen war, begann das Publikum hemmungslos zu applaudieren.

Und genau das zeigt, wie klug, wie gerissen und wie berechnend Santos seinen Abgang geplant hatte. Ganz nach dem Motto: Habt ihr nicht bemerkt, in welchem musikalischen Lügengebäude ihr euch befunden habt? Na, dann muss ich euch aus demselben mal kräftig aufwecken! In Sekundenschnelle gelang ihm die Zerstörung des theoretischen Gedankengebäudes rund um das bis dahin manierlich aufgeführte Werk. Action speaks louder than words heißt ein englisches Sprichwort. Bei Santos kann man es getrost umwandeln in action speaks louder than music! Denn, und das ist es, womit er bei diesem Stück so extrem spielt: Was dem Publikum tatsächlich ganz offenkundig gefallen hat, an diesem Abend, war das Chaos nach der Musikinterpretation. War die Zerstörung der Konzertillusion, die Aufhebung allen Ernstes und damit auch verbunden die Absolution, etwas während der musikalischen Darbietung nicht verstanden zu haben. Aus diesem Gefühl heraus wurde gewiss von vielen dankbarer als dankbar geklatscht. Obwohl – und hier zeigt sich die Größe des Künstlers, seine zuvor interpretierte Musik tatsächlich mehr verdienen würde als nur kleine Hinweise. Gelang es ihm doch in dieser einen Stunde Bilder zu evozieren, wie zum Beispiel die Konversation zweier Menschen, Erinnerungsfetzen an längst vergangenen Zeiten, den wilden Ritt über ein weites Land, aber auch Gefühle wie Melancholie oder aber pure Fröhlichkeit bei den Zuhörerinnen und Zuhörern hervorzurufen. Kunstvoll begannen sich ab dem Mittelteil seine zuvor einzeln vorgestellten Themen miteinander zu verbinden. Eloquent machte er klar, dass er in der Musikgeschichte bewandert ist und sich auch im symphonischen Tonsatz auskennt. Ob Blasmusik oder Streichquartett, alles schüttelte Santos zuvor aus seinem kompositorischen Ärmel. Um – wie schon gesagt – mit einem Tusch, Bumm und Krach das ganze Gebilde zum Schluss über die dunkle Kellertreppe zu stürzen.

Wer glaubt, damit hätte es sich nun gehabt, irrt noch mal, denn als Zugabe spielte das Orchester mit dem klingenden und für Menschen mit einem ausgeprägten Zahlengedächtnis leicht merkbaren Namen BCN216 Santos kunstvollste Stelle noch einmal. Darin war ihm in raschem, galoppierendem Tempo ein wunderschöner Rückgriff in das romantisch-symphonische Fach gelungen. Die Bipolarität dieser Aufführung, die sich in ihrer ganzen Dimension ja erst in den letzten Minuten offenbarte, sich aber eigentlich schon im Titel „Piturrino spielt einen Musiker“ Aufmerksamen zeigen hätte müssen, kann auch als originäre Charaktereigenschaft des Künstlers Carles Santos verstanden werden, der sich offenkundig trotz allen Harmoniebedürfnisses in der Dekonstruktion sauwohl fühlt.

Was übrig blieb von diesem Abend: Die Erkenntnis, noch am Nachhauseweg, einmal von einem Künstler intellektuell wirklich „eiskalt“ erwischt worden zu sein. Ein außerordentliches, aber tatsächlich wunderbares Gefühl, wenn man über seine eigene Kurzsichtigkeit stolpert und darob aus dem Lachen nicht heraus kommt.  Danke Santos!


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