Einschneidende Debatte

Von Stefan Sasse
Manche Debatte kommen über die Bundesrepublik wie ein Sommergewitter: plötzlich und völlig unerwartet, aber doch irgendwie reinigend. Die aktuell durch ein regionaler Urteil ausgelöste Debatte zur religiösen Beschneidung von Jungen ist so eine. Vor dem Urteil hat niemand je darüber nachgedacht. Jetzt sind wir in einer Grundsatzdebatte zur Abwägung verschiedener Grundrechte, vor allem dem Recht auf körperliche Unversertheit auf der einen und der Freiheit der Religionsausübung auf der anderen Seite. Solche Debatten sind gut, weil sie uns zwingen, unsere eigenen Werte zu reflektieren und manchmal auch ungeahnte Schattenseiten der Gesellschaft aufzeigen. So ging es auch mir. Als ich das erste Mal von dem Urteil gehört habe, bedachte ich die Nachricht mit kaum mehr als einem müden Grinsen. Eine kleine Systemverirrung, so schien es. Aber nach einigem Nachdenken und dem Lesen vieler kluger Artikel (vgl. Twitter Timeline) habe ich meine Meinung geändert. Tatsächlich ist es so, dass die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen einen Anachronismus darstellt, den zu tolerieren es eigentlich keinen vernünftigen Grund gibt. Ich will im Folgenden darlegen, warum ich dieser Meinung bin und zwei pointierte Gegenmeinungen kritisch betrachten.
Die Beschneidung von Jungen ist zweifellos ein für das Judentum wie den Islam zentraler Ritus. Würde heute gefordert werden, auf das Übergießen eines Babykopfes mit Weihwasser zu verzichten, weil es dem Kind schadet, so wäre der Aufschrei des Christentums wohl ähnlich. Nun versichern diverse Religionsexperten, dass es keinesfalls unbedingt notwendig ist, diesen Ritus auch durchzuführen (nicht beschnittene Juden dürfen als einzige Einschränkung in der Ausübung ihres Glaubens nicht am Tempelopfer teilhaben, das zum letzten Mal vor 2000 Jahren abgehalten wurde; die Auswirkungen auf den Islam sind mir nicht bekannt). Das stärkere Argument der Befürworter von Beschneidung ist damit Tradition. Da das Judentum generell Wert darauf legt, das Band untereinander und eine Art kollektive Identität auch in der Fremde zu erhalten (so zumindest habe ich das verstanden), ist ein gemeinsames, unlöschliches Merkmal hier natürlich sehr hilfreich. Es dient quasi der Identitätsbekräftigung der Religion. Hier aber wird es problematisch. Da das Grundrecht der Religionsfreiheit auch beinhaltet, sich gegebenenfalls für keine Religion zu entscheiden (oder eine andere), könnte es theoretisch sein, dass das Kind später, wenn es mündig geworden ist, gar nicht zu dieser Gemeinschaft gehören will und das "Zeichen" dann trotzdem lebenslang trägt. Diese andere Seite der Religionsfreiheit wird in der Debatte gerne unterschlagen.
Eher sekundär sind in dieser Überlegung medizinische Gründe. Beide Seiten bringen hier Argumente vor,  die hinreichend albern sind, um sie nicht ernst nehmen zu müssen: die einen erklären, dass die Beschneidung die Qualität des Geschlechtsverkehrs entscheidend verbessere und einen guten Schutz gegen AIDS darstelle, die anderen, dass die Beschneidung auch bei Säuglingen schwere psychische Schäden zurücklasse. Im einen Falle hätte sich über Jahrtausende das beste Rezept für guten Sex nicht durchgesetzt, im anderen Fall gäbe es Millionen von psychisch traumatisierten Männern - auch das nicht besonders wahrscheinlich. Interessant ist also hauptsächlich die Güterabwägung: auf der einen Seite das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf der anderen die freie Religionsausübung. Befürwortet man die Legalität der Praxis der Beschneidung, so argumentiert man damit, dass der Eingriff zum Einen relativ unbedeutend ist und zum anderen die Kinder ja noch nicht mündig sind und damit die Entscheidung den Eltern zufällt. Das ist soweit auch richtig. Auf der Gegenseite aber wird argumentiert, dass ein medizinisch nicht notwendiger Eingriff eigentlich gar nicht einfach von den Eltern entschieden werden kann. Und hierfür gibt es einige gute Beispiele, die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten selbst in deutsches Recht eingefügt haben.
Zum Einen ist es Eltern verboten, Kinder zu schlagen. Nicht einmal ein traditioneller "Erziehungsverstärker" in Form eines Versohlens des Hinterns oder einer Ohrfeige ist erlaubt. Wenn bereits darin ein Schaden am Kind erkannt wird, der nicht mit dem Recht der elterlichen Verfügungsgewalt vereinbar ist - wie soll das denn bitte für die Beschneidung gelten? Zum Anderen ist die Beschneidung von Mädchen vollständig verboten - aus bekannten Gründen. Warum aber bei Mädchen Unrecht ist, was bei Jungen Recht sein soll, erschließt sich keinesfalls. Hier liegt eine Ungleichbehandlung nach Geschlecht vor, die grundgesetzlich ebenfalls ausgeschlossen wird. Richtig ungemütlich wird die Debatte aber, wenn man sich für einen Moment vorstellt, dass es um eine religiöse Praxis gehen würde, der nur die Muslime anhingen. Kaum vorstellbar, dass sich die Politik und die Gesellschaft ebenfalls so für die Religionsfreiheit in die Bresche werfen würden. Stattdessen wäre wesentlich wahrscheinlicher, dass eine Anpassung an "unsere" Werte gefordert würde, flankiert von einer reißerischen Berichterstattung über die barbarischen islamischen Praktiken. Warum aber dürfen Religionen, die Mädchenbeschneidung vorsehen, diese in Deutschland nicht ausüben, während die Jungenbeschneidung erlaubt ist? Das Recht gilt für alle gleichermaßen. Es ist nicht möglich, manchen Religionen zu erlauben, gegen grundgesetzliche Regelungen zu verstoßen und es anderen zu verbieten. Das gilt im Übrigen auch für das Christentum, das sich noch immer einige Sonderregeln herausnimmt - die massive Benachteiligung der Frauen etwa, die viele Posten nicht antreten dürfen, oder die Entlassung bei Scheidung wegen moralischer Inkompatibilität. Es ist zu hoffen, dass diese Themen ebenfalls noch in die Debatte Eingang finden.
Zuletzt möchte ich zwei merkwürdige Argumentationsstränge beleuchten. Sybille Berg, Kolumnistin bei SpOn, ereifert sich darüber, dass das Thema überhaupt debattiert wird - in Afghanistan sterben schließlich Menschen, hier nur die Vorhaut! Dieses Argument ist der kleine Bruder der "Iss deinen Teller leer, in Afrika hungern Menschen"-Melodie. Beides ist vollkommener Quatsch. Ob es in anderen Teilen der Welt große Probleme gibt oder nicht ist doch kein Bewertungsmaßstab, wie wir hier mit unseren umgehen. Soll Angela Merkel einfach mal die Pressefreiheit aufheben, weil in Syrien gerade Bürgerkrieg herrscht und das doch bitteschön wichtiger ist als dieser blöde Artikel 5? Der Versuch Bergs, das Thema ins Lächerliche zu ziehen, ist eine gern benutzte Strategie bei als unwichtig empfundenen Debatten. Tatsächlich aber geht es hier um eine grundgesetzliche Güterabwägung - das ist nichts, das man nebenbei erledigen sollte.
Etwas seriöser argumentiert Patrick Bahners in der FAZ. Er erklärt, dass das Grundgesetz gewissermaßen organisch gelesen werden müsse. Es sei so zu interpretieren, dass es für die Bewohner des Landes passt. Er erkennt einen bedrohlichen "religionskritischen Zeitgeist" und beschwört Parallelen zu den Versuchen des frühen 20. Jahrhunderts, die Juden durch Beschneidung ihrer religiösen Praktiken per Gesetz quasi einzudeutschen. Darum kann es aber nicht gehen. Worum es geht sind vielmehr Grund- und Menschenrechte. Bahners hat vollkommen Recht, wenn er verlangt, das Grundgesetz nicht zur buchstabengetreu auszulegenden Bibel umzugestalten. Er vergisst aber, dass es die dahinterstehenden Prinzipien sind, die es zu verteidigen und auszulegen gilt. Und hier muss die Frage erlaubt sein, inwieweit es überhaupt zulässig ist, den Eltern Entscheidungen von solcher Tragweite zu überlassen. Die im Artikel formulierte Vorstellung, dass es dem Kindeswohl automatisch diene, wenn es in seine jeweilige religiöse Gemeinschaft initiiert wird, ist völlig absurd. Eine solche Verallgemeinerung lässt sich überhaupt nicht treffen.
Aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass das Verbot der Beschneidung richtig ist. Gleichzeitig plädiere ich dafür, hier nicht innezuhalten. Wir sollten uns allgemein fragen, ob es noch zeitgemäß und richtig sein kann, den Religionsgemeinschaften überhaupt Sonderrechte en masse einzuräumen und das Ganze mit "Tradition" zu verbrämen. Die katholische Kirchen diskriminiert Frauen, ist halt Tradition! Da muss das Grundgesetz dann auch mal fünfe grade sein lassen. Warum aber ausgerechnet Religionsgemeinschaften Sonderrechte zugebilligt werden, lässt sich außer mit der Tradition eigentlich überhaupt nicht begründen. Es ist an der Zeit für eine viel breiter angelegte Debatte.


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