Steinigungen, klärte mich der Fremdenführer auf, seien keine Seltenheit, sie seien die Samstagabendunterhaltung in diesem Landstrich, weil sich ja stets jemand finde, der Schuld auf sich geladen habe. Außerdem, so der Fremdenführer, seien Steinigungen das ideale Ventil für überschüssige Aggressionen. Die Gewalttaten seien stark zurück gegangen, ja, im Gegenteil, sagte der Fremdenführer, wenn es so weiter gehe, dann müssten sie bald ganz auf ihre Steinigungen verzichten, weil sich einfach kein rechter Täter mehr finden lassen würde. Allerdings sei man hier streng in den Verurteilungen, denn bereits ein rotes Gesicht könne ein Anzeichen dafür sein, dass eine Frau unreine Gedanken gehabt hätte. Mein Einwand, es würde sich hier um einen rückständigen und barbarischen Akt handeln, wischte er mit einem Lächeln zur Seite und sagte, das Ganze sei nicht barbarisch, es sei ein Akt des ehrlichen Miteinanders. Wenn er sich dagegen unsere Medien ansehe, die sich auf Rufmord und andere Perversionen spezialisiert hätten, dann sei ihm die Gerichtsbarkeit in diesem Land doch näher. Daher wolle er mich nun zu einer Steinigung einladen, die an diesem Abend im alten Steinbruch stattfinde. Der Himmel verspräche einen lauen Sommerabend. Steinigungen seien wie kleine Volksfeste. Ich würde es nicht bereuen. Er schob mich in Richtung unseres Autos, drückte mich auf die Rückbank und gab dem Fahrer dann Anweisungen, die ich nicht verstand.
Die Steinigungen seien von Gustave Croix eingeführt worden, dem Croix, schrie mein Fremdenführer auf mich ein. Croix wäre ein Industrieller gewesen, auch ein Dichter, der mit seinem ersten Buch „Die Söhne des Schlangengottes“ für einiges Aufsehen gesorgt hätte. Seine Verse, so der Fremdenführer, seien Abgesänge auf die Industriegesellschaft, auf den wild wucherenden Kapitalismus. Croix sei es gewesen, der zu dem archaischen Glauben ihrer Vorväter zurück gefunden habe. Im Zuge seine Dichtungen habe er dann auch irgendwann die Steinigungen ins Leben gerufen. Das müsse man sich mal vorstellen, rief mein Fremdenführer, Literatur, die sich ins Leben eingemischt hätte, wo gäbe es denn so etwas sonst noch. Befriedigt lehnte er sich zurück und sprach von den poetischen Kräften seines Volkes, während wir, auch für ihn überraschend, an einem blutüberströmten Oberkörper vorbei fuhren. Der Unterleib war in der Erde verbuddelt worden. Der Fremdenführer klopfte mir auf die Schulter und fragte aufgeregt, ob ich das gesehen hätte. Ich nickte, murmelte aber nur, ja, ja, denn mir wurde schlecht. Das sei wahrscheinlich eine spontane Straßensteinigung gewesen. Er lachte auf. Herrlich, herrlich, quickte er. Da hätte ich ja schon mal sehen können, was mich in wenigen Minuten erwarten würde. Ich bat ihn darum, nicht weiter zu fahren, ich könnte nicht mehr, mir sei übel, er sah mich erstaunt an. Na, was ist denn jetzt wieder? Ich könne die Einladung auf keinen Fall annehmen, sagte ich, denn ich sei solche Bilder nicht gewöhnt. Der Fremdenführer verwies mich in diesem Zusammenhang wieder auf unsere Medien, auch erwähnte er einige Kinofilme, die ich nie gesehen hatte. So eine Einladung, sagte er, dürfe man nicht ausschlagen, denn das wäre eine Beleidigung, nicht nur für ihn, aber vor allem auch eine Beleidigung seines Volkes. Er würde das melden müssen. Ich winkte ab, sagte ihm, er könne es beruhigt melden. Wenn Sie das unbedingt wollen, sagte mein Fremdenführer. Die Strafen für eine ausgeschlagene Einladung seien nicht zu verachten. Da würde ich mich wohl noch wundern. Mag sein, mag sein, sagte ich. Er ließ den Fahrer anhalten, erklärte ihm den Sachverhalt, der Fahrer drehte sich zu mir um und spuckte mich an. Ich wischte mir den dunkelschwarzen Rotz in die Handinnenfläche, dachte kurz über das Land und die bisherigen Erklärungen zu Sitten und Gebräuchen nach. Ich erklärte meinem Fremdenführer, so eine Steinigung sei wahrscheinlich nicht uninteressant, ich würde mich nur ärgern, wenn ich einem solchen Erlebnis nicht wenigstens einmal beigewohnt hätte. Er nickte zufrieden. Dann fuhren wir weiter.