Ein paar Gedanken am Tag der deutschen Einheit, zur Einheit in uns und dem, was als Welt erscheint
Dualität versus Dualismus
Der Dualismus zwischen Yin und Ynag,
der Dank der Versöhnung des Tao die Welt regiert, ist im Menschen wie in jedem geschaffenen Ding zu finden. Der Mensch ist sich dieses Dualismus bewusst, und dieses Bewusstsein findet seinen Ausdruck in der Überzeugung, dass er aus zwei selbständigen Teilen, zusammengesetzt sei, die er “Körper und Seele”, „Stoff und Geist”, „Instinkt und Vernunft” oder anders nennt. Der Glaube an eine solche zweigeteilte Konstitution zeigt sich in allen möglichen Redewendungen, wie z. B. „Ich bin Herr meiner selbst”, „Ich kann mich nicht enthalten …”, „Ich bin mit mir zufrieden”, „Ich bin mir böse” usw.
Doch wir wissen, dass der Glaube an die Autonomie jener beiden Bereiche eine Täuschung ist. Es gibt keine zwei verschiedenen „Teile” beim Menschen, sondern nur zwei verschiedene Seiten eines einzigen Wesens. In Wirklichkeit ist ja der Mensch ein Individuum, das nur durch die irreführenden Erklärungsversuche der analytischen Betrachtungsweise künstlich geteilt wird. Der Irrtum der dualistischen Auffassung besteht nun nicht darin, dass wir zweierlei Aspekte bei uns unterscheiden — denn es gibt zwei verschiedene Aspekte —, sondern darin, dass wir diese zwei verschiedenen Aspekte als zwei verschiedene Wesenheiten betrachten, von denen die eine vergänglich, die andere aber ewig wäre. Im übrigen aber zeigt uns die Beobachtung gar nicht das Vorhandensein von zwei getrennten Bereichen, sie zeigt vielmehr, dass alles abläuft, als gäbe es diese zwei, durch eine Trennungslinie streng voneinander geschiedenen Bereiche.
Nur unser unbelehrter Intellekt macht fälschlicherweise den Sprung von der Feststellung, „alles läuft ab, als ob” zu der irrigen Behauptung, dass es in uns tatsächlich zwei voneinander getrennte Bereiche gäbe. In Wirklichkeit läuft alles so ab, weil wir daran glauben, dass es so sei, oder genauer, weil unser universales Bewusstsein im Schlummer liegt, welches allein imstande ist, uns unsere wahre innere Einheit zu offenbaren, Ein Bild wird uns helfen, diese Frage zu verstehen. Von seinen beiden „Teilen” sieht der Mensch den einen als niedrig, triebhaft, affektbestimmt, motorisch, irrational an, den andern als überlegen, vernünftig, führend und fähig zu bestimmen, was der niedrige Teil ausführen soll. Das bedeutet, dass er sich als einen Reiter sieht, der auf einem Pferd sitzt.
In Wirklichkeit jedoch — und daran erinnert uns östliches Wissen — sind wir nicht Reiter und Pferd, getrennt durch eine Linie. Das wahre symbolische Bild des Menschen wäre der Kentaur, jenes einzigartige Wesen, das zweierlei Aspekte zulässt, die durch keine Trennungslinie geteilt sind. (Nur ein symbolische Erklärung! zum Verständnis)
Wir sind Kentaur, und doch läuft alles ab, als wären wir Reiter und Pferd, eben weil wir an die Trennungslinie zwischen beiden glauben, oder genauer, weil wir die Einheit nicht erkennen, die jene beiden Aspekte umfasst.
Wir wollen nun näher zu definieren versuchen, was wir bei unserer konkreten Struktur als Pferd und was als Reiter zu betrachten pflegen, um dadurch zu verstehen, warum wir dieses abwegige Bild von uns selbst haben. Vom morphologischen Gesichtspunkt ausgehend, sind wir zunächst versucht, die Grenze zwischen dem Pferd und dem Reiter zu ziehen. Das Pferd entspräche dann unserer körperlichen Gestaltwerdung oder dem Soma, der Reiter unserer subtilen Gestaltwerdung oder der Psyche.
Doch dieser morphologische Ausgangspunkt stimmt nicht zu dem Gesichtswinkel, unter welchem wir momentan den Menschen betrachten. Wir untersuchen ja nicht nur die verschiedenen Erscheinungsformen beim Ablauf des menschlichen Mechanismus, sondern die Frage nach der Bestimmung dieses Ablaufs. Über die Frage nach dem Ablauf unseres Lebens hinausgehend, untersuchen wir jetzt die Richtung dieses Ablaufs. Von dieser höheren Warte aus gesehen sind die beiden „Teile” des Menschen nicht mehr zwei Erscheinungsformen von teils physiologischen teils psychologischen Vorgängen, sondern zwei Seins-Formen, zwei Stile, zwei verschiedene Rhythmen der Gestaltwerdung unseres Seins. Das Pferd verkörpert eine Seins-Form, bei der mein Denken nicht unabhängig und unparteiisch funktioniert. Es ist mein persönliches, ichbezogenes, parteiergreifendes Leben, mein Leben das ich lebe, wenn mein Intellekt mit meinen Wünschen und Befürchtungen, mit meinem Affektleben überhaupt gekoppelt ist. Es ist mein Leben, wenn in mir nur das niedrige Prinzip der Versöhnung wirkt, der Demiurg, der nur über den Wechselvorgängen der zeitlichen Ebene thront.
Es ist die Natur, die in mir sich will und die durch mich hindurch ihre Zwecke erfüllt. Es ist mein Ich, insoweit ich mich abgrenzen will, insoweit ich neben dem Nicht-Ich und gegen das Nicht-Ich, Ich sein will. Der Reiter ist die Verkörperung einer Seins-Form, bei der mein Denken, befreit von der Verkoppelung mit dem Affektleben, unabhängig und unparteiisch arbeitet. Er verkörpert meine freie Einsicht, meine unparteiische Vernunft, mein reines, objektives oder universales Denken. Er ist Ich, insoweit ich denke, ohne mich abgrenzen zu wollen, insoweit ich außerhalb jedes Gegensatzes zwischen Ich und Nicht-Ich stehe.
So verstanden ist der Reiter nicht eigentlich ein Motor. Er ist zwar das Richtungsprinzip für die Bewegung des inneren Triebwerkes, aber er ist nicht der Motor. Obwohl er das Prinzip meines „Handelns” ist, ist er selbst „Nicht-Handeln”. Wenn also Reiter und Pferd beide eine Seins-Form darstellen, so ist allein das Pferd auch eine Lebensform; der Reiter ist keine Lebensform — da Leben, die Bewegung einbegreift und der Reiter Nicht-Handeln ist —; er ist eine Denkform ohne Rücksicht auf mein Leben. Notwendigerweise ist mein Leben in jeder aktuellen Situation ichbezogen, parteiisch, natürlich und gefühlsgebunden. So bald mein Denken unabhängig von meinen Affekten einsetzt, ist es auch nicht mehr an mein persönliches Leben, ja an mein Leben überhaupt gebunden. Anders ausgedrückt bedeutet das Pferd mein Leben, das von einem Partei ergreifenden Denken seine Ausrichtung erfährt. Der Reiter entspricht dem reinen, handlungsfreien Denken. Wenn meine Aufmerksamkeit ganz durch mein Leben in Anspruch genommen wird, bin ich Pferd, wenn sie dieser Haft entkommt und meine freie Einsicht aktiviert, bin ich Reiter. Die bewusste Aufmerksamkeit, die unteilbar ist, kann niemals gleichzeitig auf das Leben und auf das reine Denken über diesem Leben gerichtet sein; notwendigerweise ist sie auf den einen oder den andern dieser beiden Aspekte meines Wesens gerichtet.
Die Augenblicke, in denen ich mich durch die Ausrichtung meiner Aufmerksamkeit mit dem Pferd (wenn ich fühle oder handle) oder mit dem Reiter (wenn ich denke) identifiziere, wechseln einander ab. Die Tatsache, dass allein das Bewusstsein der Oberflächenschicht meines Wesens jeweils in mir wach ist — und dass ich daher immer nur abwechselnd Pferd oder Reiter sein kann —, ist der Grund dafür, dass ich an jene Trennungslinie zwischen den beiden „Bereichen” glaube, obgleich in Wirklichkeit diese Linie nicht existiert. Die vermeintliche Trennungslinie zwischen Pferd und Reiter bedeutet keine Trennung zwischen zwei zu gleicher Zeit wirkenden Teilen, sie ist nur die abwegige Ausdeutung der Tatsache, dass ich mir nicht gleichzeitig meines einseitig festgelegten Lebens und meiner über alles Parteiergreifen erhabenen Vernunft bewusst sein kann.
Wenn ich nämlich kein Erinnerungsvermögen hätte, käme es nicht zu dieser Ansicht der Dinge. Es gibt diese Erklärung, eben weil ich ein Erinnerungsvermögen besitze und weil meine Vorstellungskraft dank dieser Fähigkeit beide Seins-Formen gleichzeitig hervorrufen kann, deren ich mir jedoch nie gleichzeitig bewusst bin.