--- möchten wir in absehbarer Zeit gewiss nicht hören: das jammervolle Geächz der aus der Regierung herausgeworfenen Sozialdemokraten, weil man sie dann gerade so behandeln wird, wie sie heute den Reaktionären helfen, die Arbeiter zu behandeln. Eines Tages wird es soweit sein. Die furchtbare Drohung, sich nunmehr bald an der frischen Luft zu finden, wird wahrgemacht werden, wahrscheinlich eine halbe Minute, bevor man sie auch in aller Förmlichkeit bitten wird, den Tempel zu räumen. Und dann wird sich die Führung besinnen: Jetzt sind wir in der Opposition. Mit einem großen "O". Wie macht man doch das gleich...?Da werden sie dann die Mottenkisten aufmachen, in denen - ach, ist das lange her! - die guten, alten Revolutionsjacken modern, so lange nicht getragen, so lange nicht gebraucht! Werden ihnen zu eng geworden sein. Und dann frisch als Sansculotten* maskiert, vor auf die Szene. "Die Partei protestiert auf das nachdrücklichste gegen die Gewaltmaßnahmen..." Herunter! Abtreten! Faule Äpfel! Schluss! Schluss!Die werden sich wundern. Und sie werden keinen schönen Anblick bieten. Denn nichts ist schrecklicher als eine zu jedem Kompromiss bereite Partei, die plötzlich Unnachgiebigkeit markieren soll. Millionen ihrer Anhänger sind das gar nicht mehr gewöhnt; die Gewerkschaftsbürokratie auch nicht, für die uns allerdings nicht bange ist: es findet sich da immer noch ein Unterkommen. Wären die Industriellen nicht so maßlos unintelligent - sie könnten sich das Leben mit denen da schon heute wesentlich leichter machen. Sie werden es sich leicht machen. Alles gut und schön. Aber erzählt uns ja nichts von: Recht auf die Straße; Willkür; Verfassung; Freiheit ... erzählt sonst alles, was ihr lustig seid. Aber dieses eine jemals wieder zu sagen -: das habt ihr verscherzt.
Kurt Tucholsky 1931
* Als Sansculottes wurden in der Zeit der Französischen Revolution die Pariser Arbeiter und Kleinbürger bezeichnet, die im Gegensatz zu den von Adligen und Klerus getragenen Kniebundhosen lange Hosen trugen.