Einen Platz an der Sonne

Gut platziert, aber dann doch von den Wulff’schen Eskapaden aus dem Focus geräumt, hätten die Vorwürfe “rassistischen, antimodernen, totalitären Denkens”, erhoben vom Sturmgeschütz des Online-Postings, Spiegel Online, für eine längere Debatte sorgen können. Doch zu durchsichtig die Anschuldigung, zu einhellig der Proteststurm. Dabei verdeckte der allgemeine Erregungszustand den Blick auf den Roman an sich, denn der ist kein guter.

Christian Kracht: “Imperium”, 256 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, 2012.

An den Landungsbrücken raus: Herbertshöhe!

An den Landungsbrücken raus: Herbertshöhe!

Der Plot ist rasch erzählt. August Engelhardt, Apothekergehilfe aus Nürnberg, verlässt 1902 das Deutsche Reich, kreuzt die Weltmeere, um dann eben doch den deutschen Kulturkreis nicht verlassen zu können. Er geht zwar in der Südsee an Land, aber es ist Herbertshöhe – kurzzeitig Hauptstadt Deutsch-Neuguineas – eine der Kolonien, die der halbstarke Sonnenkaiser Wilhelm II. den Deutschen einverleibt hatte, um gegenüber Frankreich und Großbritannien dem eigenen Rang auf die Sprünge zu helfen. Engelhardt lässt sich auf Kabakon, einer der umgebenden Inseln nieder, um sich von nun an ausschließlich von Kokosnüssen zu ernähren. Schließlich sei der tragende Baum äußerst nützlich, in seinen Früchten sei alles enthalten, was der Mensch benötige, zudem hingen sie der Sonne am nächsten – schon ist der Sonnenorden gegründet, den der ehemalige Apothekergehilfe in Werbebroschüren und Schriften ein ideologisches Fundament zu geben versucht.

Nun ist das alles nicht neu. Die Fruchtbringende Gesellschaft hat während des Barock den Nutzen der Palme hervorgehoben, um der deutschen Sprache zur Blüte zu verhelfen. Und Marc Buhl hat 2011 einen packenden Text über „Das Paradies des August Engelhardt“ verfasst. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat die Südsee-Kolonie und den Kokovoren aus Nürnberg bereits ausreichend gewürdigt.

Genug Stoff für eine Geschichte, genug Material für einen ausgewachsenen mehrsträngigen Roman. Wie Georg Diez da auf Rassismus oder totalitäre Sehensweisen des Autors stoßen konnte, bleibt rätselhaft. Macht der doch die Position des Erzählers überdeutlich, baut gleich zu Anfang vor und distanziert sich von allem, was den Leser in der kaisertreuen deutschen Südsee auf dumme Gedanken bringen könnte:

„Es war ganz und gar nicht auszuhalten. Bläßliche, borstige, vulgäre, ihrer Erscheinung nach an Erdferkel erinnernde Deutsche lagen dort und erwachten langsam aus ihrem Verdauungsschlaf, Deutsche auf dem Welt-Zenit ihres Einflusses.“

Dieses Deutschland stößt August Engelhardt ab. Die Polizei verprügelt ihn am Ostsee-Strand, die Spießbürger der Städte verspotten ihn, selbst die vermeintliche Intelligenz mag sich nicht so freigeistig zeigen. Daraus lässt sich was machen. Bevor man sich daran macht, muss natürlich noch ein Verweis auf Hitler her. Bedeutungsschwanger, gleichwohl redundant, will da doch einer den Wilhelminismus in nuce zeigen, so braucht es den Verweis auf den Mann mit der Zahnbürste unter Nase nicht; jener kann eben nur existieren im Geist des Kaiserreichs, in dessen Militarismus und Antisemitismus. Da wird schlicht gedoppelt und ein Fähnchen schon auf Seite 18 in die Seiten des Papiers gerammt: seht her, hier wird‘s kritisch zugehen und denkt mir stets den Hitler mit, denn der war schließlich auch Vegetarier!

Somit bleibt Kracht vollkommen unverdächtig auch im Folgenden. Nie streift sein Erzähler den von Diez geäußerten Verdacht, wenn, dann sind Begriffe, Ausdrücke und Kontexte aus dem Historischen herausgegriffen und geben die Mentalitäten der Handelnden wieder.

So viel zu einem Geplänkel, das zurecht nie zu einer Debatte ausgewachsen ist. Dabei trägt der Text eine andere Bürde mit sich herum, die ob der Aufgeregtheit während der Erscheinungswoche fast vollkommen unterging.

Da „… lief er lilarot an, als drohe er zu ersticken. Während man vom Nebentische aufsprang, um ihn mittels ausholender Schläge auf den Rücken von dem vermeintlich in seiner Trachea logierenden Knochenstückchen zu befreien, saß August Engelhardt ihm gegenüber, zu Boden schauend…“

Die Poetik des Romans auf den Punkt gebracht. Nicht eine vermeintliche antisemitische Haltung des Erzählers stört, jene ist nicht vorhanden, die Sprache geht einem nach 20 Seiten auf den Geist. Als ob ein Primaner in den Osterferien die Thomas Mann-Sammlung der Eltern aufgeschlagen hätte und nun auf Gedeih und Verderb zeigen möchte, wie genau er auch so eine Syntax nachzudrechseln imstande ist. Nichts einzuwenden, zeichnete da einer das Kaiserreich in der Sprache seiner Bildungsbürger nach! Wollte da einer sprachlich das Sittenbild einer untergegangenen Zeit evozieren. Doch dem ist nicht so. Da wird historisiert und geschrieben im Stile beinahe des 19. Jahrhunderts – ohne einen Erkennntisgewinn daraus zu erzielen. Und es  gehören so schiefe Metaphern dazu, wie, „… daß jegliche an den Gestanden seines Bewußtseins anbrandende Irritation von ihm abgehalten wurde wie eine gefräßige Motte durch ein besonders fein gewebtes Mückennetz …“.

Es ist das Zuviel, das ermüdet.

„Springer und Turm waren, hölzernen Granaten gleich, im Sand neben einem Tausenfüßler eingeschlagen, der sich beim Verzehr eines ihm als Abendbrot dienenden Blattes empfindlich gestört sah und mürrisch durch den Regen davongekrochen war.“ 

Untergehoben unter diesen klebrigen Teig des Manierismus finden sich dabei Ausdrücke, die mehr an Klinsmannschen Sportsprech erinnern, denn an Thomas Mann. So wäre die Idee, sich ausschließlich von Kokosmüssen zu ernähren,  eine, „… die erst sacken müßte in der zivilisierten Welt.“

Kann man machen, würde da einer die Ironie auspacken – und auch anzuwenden verstehen – um der heutigen Zeit in der Verfremdung den Spiegel vorhalten zu können. Es bleibt beim spielerischen Versuch. Weder wird ein gesellschaftliches Panorama geschaffen, zwar werden reichlich Kulissen aufgestellt, aber daraus wird kein in sich schlüssiges Bild, noch taugen die literarisierten Figuren als Repräsentanten ihrer Zeit. August Engelhardt selbst wird mehr und mehr zu einem Abziehbild, zu einem bedauernswerten Klischee.

So schafft es der Autor, dass Story und Plot tatsächlich in der Trachea logieren. Sie stecken fest in einem sprachlichen Geschwurbel, das allein um der dekorativen Qualität willen zu existieren scheint.

Adelung schrieb einmal zum Verb “künsteln”:

“1) Unnöthige, mühsame Kunst anwenden, und dadurch hervor bringen. Lange an einem Dinge künsteln. Der flüchtige Kitzel, womit die gekünstelten Gerichte die Zunge reitzen. 2) Durch die Kunst nachahmen, mit dem Nebenbegriffe des Falschen und Unechten. Gekünsteltes Gold. Eine gekünstelte Schönheit. Der Wein ist nicht natürlich, sondern gekünstelt. 3) Willkührliche Ausübungssätze mit Mühe und Ängstlichkeit anwenden. In diesem Verstande unterscheidet man in den schönen Künsten das Gekünstelte von dem Natürlichen. So auch die Künstelung.” (Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart)

Die Erzählung an sich steckt auch fest -  in sich selbst. Es wird berichtet, kommentiert und nachgetragen. Nur selten ist der Leser mit dabei, wenn etwas geschieht, er mit eigenen Augen und Ohren Engelhardt begleiten und beispielsweise dessen verhängnisvolles Treffen mit Lützow miterleben darf. Der Erzähler drückt sich schon rechtzeitig dazwischen und setzt sich selbst endlos ausholend in Szene.

August Engelhardt und sein Gast Max Lützow

Weitere Verwirrung bringt der Wunsch des Erzählers, die Enge der kleinen Insel stets mit der großen Welt verbinden zu wollen. Das hemmt die Fahrt, lässt eine solche nicht im Ansatz aufkommen. Statt sich auf die faszinierende Geschichte des August Engelhardt zu beschränken und jene auszubauen mit dem Inventar, das da in Herbertshöhe, Rabaul und Kabakon zum Auflesen bereit herumliegt, werden historische Gleichzeitigkeiten einbezogen, ohne dass jene etwas zur Geschichte des Protagonisten beitrügen. Interessiert es, dass August Engelhardt einen ehemaligen Kellog-Mann trifft, der später Vegemite erfinden wird? Interessiert die Palmin-Aquise in Übersee? Ein weiterer Querverweis, damit hat es sich. Dagegen wäre nichts einzuwenden, geschähe es nicht bald an jeder Stelle und an jedem Ort. Besonders ärgerlich werden die comichaften Überzeichnungen realer Personen.

„Aueckens habe im August letzten Jahres, nach einer ausgedehnten Wanderung durchs Helgoländer Oberland, bei der die Seemöwen unbeweglich wie weiße Steine über dem Kliff bei Hoyshörn im Wind hingen, bei einer Rast in einem Teehaus einen jungen Mann fixiert, dessen abstehende Ohren, dunkle, kimmerische Augen und sonderbare Blaßheit so gar nicht dorthin passen wollten. [...] Dieser Fremdling habe ihn rasend vor Lust gemacht [...].“

Dann wird auch gleich zugelangt und „[...] schon hatten Aueckens‘ kräftige Hände die schmalen Schultern des jungen Städters gegen die Außenwand des Teehauses gedrückt und er hatte versucht, ihm seine Zunge in das Ohr zu stecken [...].“ 

Man hat Kafka bereits genug angetan. Ganze Schülergenerationen werden durch seinen „Proceß“ getrieben, muss nun noch ein Kracht über ihn herfallen, nur weil der einmal gelesen hat, Kafka habe in jungen Jahren auch Helgoland einen Abstecher gewidmet? An anderer Stelle, dieses Mal in der Nehrung, alarmiert ein Redakteur des Simplicissimus die Polizei, da er den nackten Engelhardt am Strand sieht. Später färbt im Zugabteil falscher Trollinger das Tischtuch violett und Herman Hesse fährt heim mit seiner Braut und aufkeimenden homoerotischen Gedanken.

Diese zwei nur als Beispiel. Wer mag, darf weitersuchen und sich am großen Ratespiel beteiligen, es finden sich einige Ostereier mehr zwischen den Seiten versteckt. Der Aha-Effekt verpufft so vor lauter Pufferei und Querverweisen. Postmoderne ist gut, wenn es gelingt, mittels Verschränkung scheinbar unzusammenhängender Ereignisse ein neues Veständnis einer gemeint bekannten Sache zu schaffen. Oder sie schlicht und ergreifend Spaß bereitet. John Barth macht das, William Gaddis macht das und auch Christian Kracht macht das, aber bei ihm geht es schief. Weil die Geschichte ihren Faden verliert, weil sie ins Episodische zerfasert und der Erzähler Bildungsschätze wie Sammelmarken in ein Sammelheft einklebt, ein paar Schnörkel darum malt, damit alle besehen können, zu welcher Kunstfertigkeit er fähig sei. Nur ist der Roman kein Sammelheft. Seine Möglichkeiten werden durch bloßes Plakatieren nicht einmal an der Oberfläche abgeschöpft.

So ist ein ein trauriger Text entstanden. Traurig, denn Kracht ist ein guter Autor. Traurig, denn der Stoff gibt vieles her. Man liest ihn dennoch pflichtgemäß zu Ende, traurig.

Bruten Butterwek

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