Eine Wiener Familie

Von Lesemanie @luft_liebe_buch

Eva Menasse – Vienna

Mit manchen Büchern taucht man als Leser in völlig unbekannte Welten. Andere Bücher entführen den Leser nicht an fremde Orte, sondern in ihm bis dato völlig unbekannte Familien. Vienna von Eva Menasse ist genau so ein Buch. Als ich durch war, hatte ich das Gefühl, enge Verwandte zurückgelassen zu haben.

Das mag vor allem an Menasses Erzählweise liegen: in einzelnen Episoden wirft sie den Leser mitten hinein in die Ereignisse dieser jüdischen Patchworkfamilie, die in drei Generationen Wien im 20. Jahrhundert erlebt. Dabei findet man sich wohl ebenso plötzlich in der Mitte des Geschehens wieder wie der Vater der Ich-Erzählerin, der als Sturzgeburt zur Welt kommt, seiner Mutter so einen Bridge-Abend verkürzt und außerdem ihren Pelzmantel ruiniert.

Die Anekdoten verbindet Menasse gekonnt durch wiederkehrende Spitznamen, oder auch den Gebrauch familiärer Insider-Witze, über die man sich als Leser bereits nach wenigen Seiten ebenso amüsieren kann wie der Rest der Familie. Und dabei inkludiert Menasse – quasi locker und wie nebenbei – starken Tobak in dieser Familiengeschichte. Zwar findet sich kein Familienmitglied der Großelterngeneration in einem Konzentrationslager, doch sie werden Opfer von Anfeindungen, sie verlieren Geld und Besitz, der Großvater wird zum Arbeitsdienst herangezogen, über den er der jüngeren Generation gegenüber jedoch kaum Worte verliert. Und dann ist da die Schwester des Großvaters, die vor dem Krieg einen erfolgreichen – nicht sehr klugen aber sehr lieben – christlichen Bankdirektor geheiratet hat und fortan ein großes Kreuz auf ihrer Brust zur Schau stellt. Der Vater der Erzählerin wird mit anderen Kindern nach England geschickt um sie vor den Deutschen zu schützen. Als er Jahre später nach Wien zurückkehrt, hat er seine Muttersprache fast vergessen und die Eltern, die ihn am Bahnhof abholen kommen erkennt er kaum. Sein älterer Bruder fungiert als Übersetzer.

Die Familie wächst und gedeiht – der Vater lässt sich scheiden und heiratet erneut, doch beide Frauen verstehen sich so gut miteinander, dass sich bei Familienzusammenkünften sowohl die Exfrau sowie die neue Frau mit ihren Kindern und Anhang finden. Es scheint, als könne nichts die Harmonie in dieser Familie trüben, die wieder und wieder die alten Geschichten heraufbeschwört und bereits verstorbene Familienmitglieder durch Erzählungen zum Leben erweckt. Aber das wäre ja langweilig, schließlich gleichen alle glücklichen Familien einander. Das wusste nicht nur Tolstoi, das weiß Menasse auch. Dabei findet sie jedoch immer die richtige Balance und den richtigen Tonfall; nie driftet sie ab ins Melodramatische und nie wird sie unglaubwürdig in ihrer Erzählung. Denn in welcher Familie herrscht schon ein derart vollkommenes Glück vor, dass sie sich wirklich nicht von anderen unterscheidet?

Kurzfazit: Eine unterhaltsame Familiengeschichte mit einer abwechslungsreichen Mischung aus schönen und schrecklichen, lustigen und traurigen Anekdoten.


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