Eine Weihnachtsgeschichte

Agnera war in der heiligen Nacht geboren worden, in der Nacht vor Weihnachten.
„Wie Jesus Christus“, hatte ihr Onkel gesagt.
Aber dann waren alle erschrocken, die ganze Verwandtschaft. Sie war schwarz zur Welt gekommen.
„Ein schwarzes Schaf!“, hatte ihre Mutter erschrocken geflüstert, und der Herdenälteste hatte laut ausgerufen: „Ein böses Omen!“, und Agnera misstrauisch angeschaut.
Schwarze Schafe gab es nicht in ihrer Herde. Und schon gar nicht an Weihnachten.
„Es sollte ein Lamm Gottes sein, das in dieser Nacht geboren wird!“, hatte ihr Onkel vorwurfsvoll gesagt, „ein weisses Lamm.“

Luisa hatte ihr später erklärt, was das bedeutete. Das Lamm Gottes, hiess es, war ganz und gar rein. Es war frei von jeder Schuld. Das Lamm Gottes trug auf seinen schmalen Lämmerschultern das Gewicht der ganzen Welt.
„Wie kann es das?“, hatte Agnera gefragt.
„Das kann es, weil es das Lamm Gottes ist.“
„Und warum ist es das Lamm Gottes?“
„Eben weil es das Gewicht der ganzen Welt auf seinen schmalen Schultern trägt.“
„Und was ist mit mir?“
„Du trägst womöglich schwerer an deinem eigenen Gewicht als das Lamm Gottes am Gewicht der ganzen Welt. Denn das Lamm Gottes wird getragen von der Liebe aller Wesen.“

Agneras Mutter hatte bedrückt nach einer Erklärung für die Farbe ihres Lammes gesucht, wohl wissend, dass das keinen Zweck hatte.
„Vielleicht habe ich einen schwarzen Felsen angeschaut, als ich das Kind empfangen habe. Das färbt mitunter ab, sagt man.“
Aber die Herde hatte nur geschnaubt.
„Unwahrscheinlich, höchst unwahrscheinlich!“
Agneras Vater hatte plötzlich niemand mehr sein wollen.
„Ich bin ja weiss!“, hatten alle gesagt. „Kann denn ein weisser Bock ein schwarzes Lamm zeugen?“

Nur ein Schaf gab es in der Herde, das sich um Agnera kümmerte. Es war die alte Luisa. Luisa war weiss, und sie war blind. Als sie Agnera zum ersten Mal zu sich gerufen hatte, hatte Agnera gedacht, sie tue das nur, weil sie ihre Farbe nicht sehen könne. Aber Luisa wusste es. Luisa wusste alles. An ihrem ersten Geburtstag erzählte sie Agnera eine Geschichte.
„Heute ist Weihnachten“, sagte sie. „Kennst du die Geschichte von Rudolph?“
Agnera schüttelte aufgeregt den Kopf. Luisa nickte langsam. Dann fing sie an:
„Es war einmal ein Rudolph, der war ein Rentier.“
„Ein was?“, fragte Agnera neugierig.
„Ein Rentier ist eine Art Kuh, die am Nordpol lebt.“
„Und was macht diese Kuh am Nordpol?“

„Rudolph das Rentier wurde mit einer roten Nase geboren. Seine Nase war so rot, dass sie in der Nacht leuchtete. Rudolph war deshalb immer von weitem zu sehen. Deswegen wollte seine Herde ihn verstossen. Alle hatten Angst, dass sie sich nicht mehr vor dem bösen Bären verstecken konnten, wenn Rudolph so leuchtete.“

Agnera liess den Kopf hängen und schaute traurig vor sich auf den Boden.
„Armer Rudolph“, sagte sie leise.

„Aber hör weiter!“, rief Luisa, „Hör weiter! Als es Weihnachten wurde, bewarben sich alle Rentiere beim Weihnachtsmann um ein Schlittenamt. Jeder wollte dabei sein und den Schlitten ziehen und mit dem Weihnachtsmann um die ganze Welt reisen, um Geschenke zu verteilen. Und als der Weihnachtsmann Rudolph sah, rief er laut und begeistert aus: ‚Du mit deiner grossen roten Nase, du kannst mir durch die Nacht leuchten! Du wirst mich von nun an jedes Jahr begleiten!’ Er streichelte Rudolphs Nase und legte ihm das schönste Gewand an, das die Herde je gesehen hatte. Da begannen die anderen Rentiere, Rudolph zu schmeicheln, und jeder wollte der erste sein, der behauptete: ‚Ich habe schon immer gewusst, dass unser Rudolph etwas besonderes ist!’

“ Aber das stimmt ja gar nicht!“, empörte sich Agnera.
„Nein, natürlich nicht!“, antwortete Luisa ruhig. „Aber die Rentiere dachten, der Weihnachtsmann würde das nicht merken.“
„Aber er hat es gemerkt?“
„Der Weihnachtsmann merkt alles.“
Agnera atmete laut hörbar auf.
„Und wie ging die Geschichte weiter?“

„Rudolph reiste in jedes Land der Welt und half dem Weihnachtsmann, allen ihre Geschenke zu bringen. Vor allem den Armen und den Traurigen, die sonst keine Freude hatten im Leben.“
Agnera hielt den Kopf schräg und dachte angestrengt nach.
„Luisa?“
„Ja, Kleines?“
„Haben der Weihnachtsmann und Rudolph wirklich allen Geschenke gebracht?“
„Ja, Kleines, allen.“
Agnera schien immer noch zu zögern.
„Auch den schwarzen Schafen?“
Sie hielt den Atem an und schien sich ein wenig vor der Antwort zu fürchten. Aber Luisa lächelte und nickte.
„Auch den schwarzen Schafen. Denen ganz besonders.“
Agnera holte tief Luft und fragte weiter:
„Dann macht sich der Weihnachtsmann gar nichts daraus, ob ein Schaf schwarz oder weiss ist?“
Luisa schüttelte den Kopf.
„Nein, Liebes. Nur die Schafe selbst.“

Der weisse und der schwarze Engel schauten sich an, beide seufzten. Der schwarze Engel nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Der weisse Engel wand sich auf dem Sofa und sah sehr unbehaglich aus.

„Diese Schafe!“
„Es ist immer das gleiche.“
„Es wird sich nie etwas ändern.“
„Sie werden nie erkennen, wie es sich mit schwarz und weiss verhält.“
„Dass es schwarz und weiss überhaupt nicht gibt!“
Ein lauter Gong unterbrach das Gespräch, und der schwarze Engel blickte erstaunt auf die Uhr.
„Wie die Zeit vergeht!“
Der weisse Engel begann, seinen langen weissen Mantel aufzuknöpfen, der goldene Knöpfe hatte und bis zum Boden reichte.
„Schichtwechsel“, sagte er und gähnte.

Der schwarze Engel erhob sich vom Sofa und begann ebenfalls, seinen Mantel aufzuknöpfen, der genau so lang wie der des weissen Engels war, aber über und über schwarz. Es knisterte, als die beiden ihre Kleider von den Schultern gleiten liessen. Der schwarze Engel reichte dem weissen Engel seinen schwarzen Mantel und streckte die Hände nach dem weissen Mantel aus, den der weisse Engel ihm entgegenstreckte. Jeder zog nun den Mantel des anderen an, und wieder knisterte es, als sie die schweren, weichen Stoffe um ihre Schultern legten. Als der Wechsel vollzogen war, sahen sich die beiden an, und ein Lachen zuckte um ihre Mundwinkel.

„Wie du aussiehst!“, sagte der schwarze Engel, der vorher weiss gewesen war.
„Und du!“, entgegnete der weisse Engel, der vorher schwarz gewesen war.
Er streckte dem schwarzen Engel die Hand entgegen. Dieser schlug ein und nickte dem weissen Engel zu.
„Also, machs gut, weisser Engel!“
„Machs besser, schwarzer!“
Beide lächelten.
„Bis man sich daran wieder gewöhnt hat!“
„Es ist immer das gleiche.“

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von Nicole Maron
erstmals veröffentlicht im «Anzeiger von Saanen» im Dezember 2009

 


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