Bertolt Brecht erzählt folgende erstaunliche Geschichte von der Veränderung, die mit seiner Großmutter vorging, nachdem sein Großvater gestorben war.Die alte Frau, damals 72 Jahre alt, hatte zeit ihres Lebens ohne Magd den Haushalt geführt, das alte wacklige Haus in einem badischen Städtchen betreut, für die Mannsleute gekocht und mit kärglichen Mitteln fünf Kinder großgezogen (von den sieben, die sie geboren hatte). Als nun ihr Mann gestorben war, blieb sie allein in dem viel zu großen Haus, obwohl eines ihrer erwachsenen Kinder sie zu sich genommen hätte, ein anderes gern zu ihr gezogen wäre. Aber die Greisin wollte von beidem nichts wissen, wollte nur von jedem ihrer Kinder, das dazu in der Lage war, eine kleine finanzielle Unterstützung annehmen. Die Kinder schrieben ihr, sie könne doch nicht ganz allein leben; aber als sie darauf überhaupt nicht einging, gaben die Kinder nach und schickten ihr ein bißchen Geld.Am Ort selbst wohnte nur noch ein Sohn mit seiner Familie, ein Buchdrucker, und auch zu ihm hielt die alte Frau bloß eine sehr lose Verbindung. Auf schriftliche Anfragen seiner Geschwister antwortete er ziemlich kurz, die Mutter gehe ins Kino. Dort mußte eine einzelne alte Frau damals sicherlich auffallen. Hinzu kam, daß Brechts Großmutter nicht nur mit ihrem Sohn am Ort keinen regelmäßigen Umgang mehr pflog, sondern auch sonst kaum einen Bekannten besuchte oder einlud. Dafür besuchte sie häufig die Werkstatt eines Flickschusters in einem armen und sogar etwas verrufenen Gäßchen. Der Flickschuster „,.antwortete ein Mann in mittleren Jahren, der in der ganzen Welt herumgekommen „,.arbeitete, ohne es zu etwas gebracht zu haben. Auch stand er in dem Ruf, zu trinken. Als der Buchdrucker seine Mutter darauf hinwies, bekam er den kühlen Bescheid: »Er hat etwas gesehen.“ Etwa ein halbes Jahr nach dem Tod des Großvaters schrieb der Buchdrucker an seine Geschwister, daß die Mutter jetzt jeden zweiten Tag im Gasthof esse. Für eine Frau, die jahrzehntelang einem Dutzend Menschen das Essen gekocht und selber immer nur die Reste genommen hatte, war das gewiß eine bemerkenswerte Neuerung. Des weiteren bestellte die Greisin an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag ein geräumiges Pferdegefährt und fuhr damit zu einem Ausflugsort, was sonst nur in seltenen Fällen sowie im Beisein sämtlicher Enkelkinder geschehen war. Und dann kam auch noch die Reise nach K., in eine größere Stadt, etwa zwei Eisenbahnstunden entfernt, wo ein Pferderennen war .Zu diesem Pferderennen fuhr Brechts Großmutter, nahm obendrein das Küchenmädchen des Gasthofs, in dem sie jeden zweiten Tag speiste, auf die Reise mit – eine halb Schwachsinnige, wie der Buchdrucker spitz bemerkte. Mit ihrem Familienleben schien die alte Frau abgeschlossen zu haben und neue Wege zu gehen, jetzt, wo ihr Leben sich neigte. »Genau betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben“ , schreibt Brecht, »das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.« Brecht läßt keinen Zweifel daran, daß dieses kurze zweite Leben der Frau B. ihr eigentliches Leben war. Dennoch nennt er seine Erzählung: „Eine unwürdige Greisin« .Das ist deutlich genug: Eine alte Frau hat, zumindest nach damaligen Maßstäben, kein zweites Leben zu haben, hat überhaupt nicht so zu sein wie diese. Sondern: Ein alter Mensch ist einsam.
Diese Vorstellung gilt heute noch, gilt heute vielleicht mehr denn je. Seit Generationen hat sich an den düsteren Vorstellungen über das Leben im Alter nichts geändert. Heute wie damals wird das Alter im Alleinsein mit Trostlosigkeit, mit Isolation, mit Armut assoziiert.
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