Eine politische Abschiedsvorstellung

Berliner Regierungsberater diagnostizieren vor den morgigen Parlamentswahlen in Afghanistan einen „Abbau“ formaldemokratischer Restbestände in Kabul. Die westlichen Besatzer legten offenbar keinen Wert mehr auf „glaubwürdige Wahlen“ am Hindukusch, heißt es in einer aktuellen Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Präsident Karzai erhalte vielmehr „freie Hand“, mit Hilfe der Wahlen „nun auch das Unterhaus seinem Willen zu unterwerfen“. Afghanistan sei unter westlicher Kontrolle eine „Fassadendemokratie“ geworden, die „auf einem Unterbau aus kriegs- und drogenökonomischen sowie klientelistischen Strukturen“ basiere. Während Karzai sich offenkundig darauf vorbereitet, eine „Präsidentendynastie“ in Kabul zu etablieren, treiben westliche Thinktanks ihre Planungen für eine künftige Afghanistan-Strategie voran. Jüngsten Vorschlägen zufolge sollen die westlichen Besatzungstruppen stark reduziert und nur in wenigen Militärbasen für gelegentliche Überfälle auf antiwestliche Kräfte bereitgehalten werden. Afghanistan selbst, heißt es, sei in relativ eigenständige Provinzen zu zerlegen, die zur „Zentralregierung“ in Kabul in einem „Gleichgewicht der Schwäche“ stünden – optimale Voraussetzungen für die Kontrolle des Landes durch die westlichen Mächte.

Freie Hand

Berliner Regierungsberater rechnen mit „erheblichen Fälschungen“ und ernstem Wahlbetrug bei den morgigen Parlamentswahlen in Afghanistan. Wie aus einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hervorgeht, sind die Vorschläge afghanischer und internationaler Beobachter, wie aus den Wahlfälschungen der Jahre 2004, 2005 und 2009 Konsequenzen gezogen werden könnten, von den westlichen Besatzungsmächten ignoriert worden. Selbst gegen schwerste Mängel werde nicht eingeschritten; zum Beispiel seien inzwischen 17,4 Millionen Wählerausweise in Umlauf, während die Gesamtzahl der Wahlberechtigten nur mit unter 12,6 Millionen angegeben werde. Weite Landstriche stünden nicht unter der Kontrolle des Kabuler Regimes oder der NATO, weshalb ein geregelter Wahlablauf dort recht unwahrscheinlich sei. Wie die SWP feststellt, haben die westlichen Staaten ihre Wahlbeobachtung mittlerweile deutlich reduziert. So entsendet die EU keine „Observation Mission“ mehr, sondern lediglich eine „Assistance Mission“, deren Aufgaben und Kompetenzen deutlich verringert wurden. Wie die SWP resümiert, habe der Westen „das Ziel glaubwürdiger Wahlen in Afghanistan aufgegeben“ und lasse „Präsident Karzai freie Hand“.[1]

Kriegs- und Drogenökonomie

Über die aktuellen Wahlen hinaus diagnostiziert die SWP einen „Abbau“ der formaldemokratischen Bestände in Kabul. Afghanistan sei unter westlicher Kontrolle zur „Fassadendemokratie“ geworden, „mit übermächtiger Exekutive gegenüber einem politisch und legitimatorisch schwachen Parlament und einer nicht unabhängigen Gerichtsbarkeit“. Die morgigen Parlamentswahlen machten es Hamid Karzai möglich, „nun auch das Unterhaus seinem Willen zu unterwerfen“.[2] Die Entwicklung einer „Präsidialdynastie“ sei nicht auszuschließen. Als etwaiger Nachfolger des aktuellen Präsidenten gilt der SWP Hamids Bruder Mahmud Karzai, „der sich bisher vor allem um die Geschäftsinteressen seines Familienclans kümmert, aber politische Ambitionen hegt und dabei auch vom Amtsinhaber gefördert wird“. Über die Grundlagen des Karzai-Regimes, soweit sie über den Unterhalt durch die westlichen Besatzer hinausgehen, lässt die SWP keinerlei Illusionen zu: „Dieses Gebilde basiert auf einem Unterbau aus kriegs- und drogenökonomischen sowie klientelistischen Strukturen.“

Zu ehrgeizig

Während Hamid Karzai mit Billigung der Besatzer sein Regime weiter festzurrt, dauert im Westen die Debatte um die künftige Besatzungspolitik an. Dabei gilt die aktuelle Aufstandsbekämpfung am Hindukusch weithin als gescheitert; sie sei „zu ehrgeizig“ und verschwende diplomatische wie auch militärische Energie, hieß es etwa vor kurzem im diesjährigen „Strategic Survey“ des renommierten International Institute for Strategic Studies (IISS, London), einem führenden westlichen Thinktank auf dem Gebiet der internationalen Politik. Die Vorschläge des IISS für eine künftige Afghanistan-Strategie basieren auf Kernelementen, die mittlerweile vor allem in den USA befürwortet werden und in absehbarer Zeit wohl auch die deutsche Öffentlichkeit erreichen; intern werden sie auch in der Bundesrepublik schon diskutiert. Als unverzichtbar gilt dabei nur noch das Ziel, nach Westen ausgreifende terroristische Strukturen („Al Qaida“) aus Afghanistan fernzuhalten. Mit örtlichen islamistischen Kräften („Taliban“), heißt es, könne man jedoch durchaus kooperieren.

Gezielte Militärschläge

Wie das IISS in seinem „Strategic Survey“ konkret vorschlägt, sollen die Besatzungstruppen aus den paschtunischen Gebieten im Süden und Osten Afghanistans – dort haben die „Taliban“ schon seit je den größten Einfluss – abgezogen werden. Zugleich gelte es, sich in Militärstützpunkten in Kabul und in Nordafghanistan auf Dauer festzusetzen. Sobald die erwähnten, nach Westen ausgreifenden Terrorstrukturen sich erneut in Afghanistan anzusiedeln suchten, müssten die NATO-Truppen gezielt zuschlagen; dazu müsse man Schnelle Einsatztruppen aufbauen. Islamistische Kräfte, die auf Aggressionen gegenüber dem Westen verzichteten, seien als Partner zu behandeln und allenfalls zu bekämpfen, wenn sie aus ihrer angestammten Heimat zu expandieren suchten.[3] Der Vorschlag des IISS stimmt mit Konzepten überein, die seit geraumer Zeit in den USA auch öffentlich debattiert werden (german-foreign-policy.com berichtete [4]) und einen Abzug der meisten westlichen Truppen ermöglichen, ohne die militärische Kontrolle über Afghanistan ganz aufzugeben.

Gleichgewicht der Schwäche


Für die Binnenstruktur Afghanistans schlägt das IISS vor, die formelle Kontrolle über das Land sowie die offizielle Außenpolitik wie bisher dem Regime in Kabul zu überlassen. Die „praktische Souveränität“ dagegen solle bei den Provinzen liegen, deren Eigenständigkeit gegenüber Kabul zu stärken sei. Insbesondere plädiert das IISS dafür, die Afghan National Army (ANA) „konföderal“ zu strukturieren: „Örtliche Streitkräfte“ – de facto Warlord-Milizen – sollten mit dem Etikett ANA versehen und offiziell in die nationalen Streitkräfte eingegliedert werden. In der Praxis laufen die Vorschläge des IISS darauf hinaus, Afghanistan in ein Geflecht kleiner Territorien zu zerlegen, in denen jeweils örtliche Warlords mit Hilfe ihrer Milizen die Macht innehaben und nur noch locker mit der Zentrale in Kabul verbunden sind. Ähnliche Konzepte werden ebenfalls schon seit einiger Zeit diskutiert (german-foreign-policy.com berichtete [5]); US-General David Petraeus soll bereits Absprachen darüber mit Hamid Karzai getroffen haben. Das IISS spricht ausdrücklich von einem „Gleichgewicht der Schwäche zwischen der Hauptstadt und den Provinzen“ [6] – eine prekäre Balance, die den Besatzern die Kontrolle über widerspenstige Kräfte erleichtert.

Afghanisierung

Während sich die internationale Debatte über Afghanistan – fernab der deutschen Öffentlichkeit – erkennbar in die Richtung bewegt, die das IISS mit seinen neuen Vorschlägen beschreibt, sucht der Kabuler Machthaber Hamid Karzai mit Hilfe der morgigen Parlamentswahlen seine Herrschaft in der afghanischen Hauptstadt zu festigen – als ein Pfeiler der künftigen Kontrolle des Westens über ein eventuell gänzlich zersplittertes Afghanistan. Die Wahl, urteilt der renommierte Afghanistan-Experte Thomas Ruttig, werde „die politische Abschiedsvorstellung“ des Westens sein – „alles danach nur noch Teil des Rückzugs, durch das beschönigende Wort ‘Afghanisierung’ verbrämt.“[7] Und zudem erweitert um Maßnahmen wie das vom IISS vorgeschlagene Konzept, das dem Westen auf Dauer die Kontrolle über Afghanistan sichern soll.

[1], [2] Citha D. Maaß, Thomas Ruttig: Afghanistans Parlamentswahl 2010. Verpasste Wahlrechtsreformen und politische Manöver schwächen neues Parlament, SWP-Aktuell 66, September 2010
[3] Strategic Survey 2010: The Annual Review of World Affairs – Press Statement; www.iiss.org
[4] s. dazu Dauerkrieg
[5] s. dazu Totalschaden und Die Kolonialisten kommen zurück
[6] Strategic Survey 2010: The Annual Review of World Affairs – Press Statement; www.iiss.org
[7] Thomas Ruttig: Afghanistans embryonale Demokratie unterliegt; Neues Deutschland 14.09.2010

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