Eine Nacht in Amritsar: Wie mir die Sikhs im Goldenen Tempel die Augen öffneten

Von Francis & Bina (my-Road.de)

Einer der besten Erlebnisse während unserer bisherigen Indienreise war unsere Übernachtung im Goldenen Tempel von Amritsar. In diesem Artikel erfährst du, wie du kostenlos im Tempel übernachten kannst, was wir von den Sikhs lernten und welch faszinierenden Begegnungen wir in Amritsar hatten.

Schon bevor wir den Tempel sahen, machte sich die Aura des Tempels bemerkbar. Die Pilger strömen in Massen zum Tempel. Einige singen auf ihrem Weg und die Kleidung der vielen Sikhs macht schon beim Verlassen der Rikshaw große Lust auf den Tempel.

Anhand der Fastfood-Läden in diesem Teil der Stadt merkten wir, dass wir bald eine neue Welt betreten würden. McDonalds, Subway und Pizza-Hut haben hier Filialen, die ausschließlich vegetarische Gerichte verkaufen.

Mit etwas Glück kannst du auf deinem Weg zum Tempel einen Umzug erleben. Wir sind mehrmals zum Goldenen Tempel gelaufen und an einem Samstagabend gegen 18 Uhr konnten wir diesen Festzug inklusive Feuerwerk beobachten. Achtung: Der Teppich darf nur barfuß betreten werden!

Wir liefen weiter und machten uns zunächst mit den Regeln vertraut, die jeder im Tempel einzuhalten hat:

  1. Schuhe und Socken dürfen nicht mit in den Tempel genommen werden. Dafür gibt es mehrere Stellen, an denen du deine Schuhe kostenlos abgeben kannst. Deine Schuhmarke wird am Eingang kontrolliert.
  2. Füße und Hände müssen vor dem Eintritt gewaschen werden. Es gibt Waschbecken und ein Fußbecken vor dem Eingang.
  3. Im Inneren muss der Kopf bedeckt bleiben. Du kannst dir auf den Zufahrtsstraßen für 10 Rupien ein Kopftuch von einigen Händlern kaufen oder du leihst dir kostenlos eins am Eingang. Dieses ist dann aber schon getragen.
  4. Der Konsum von Genussmitteln wie Tabak und Alkohol ist im Tempelkomplex verboten.

Bevor du den Tempel betrittst, verstaust du deinen Rucksack am besten in einem Gepäck-Raum (z.B. links vor dem Haupteingang).

Nachdem wir den Haupteingang passiert hatten, war ich erst einmal ziemlich baff. Zwar habe ich das Bild des Tempels etliche Male zuvor in Amritsar gesehen, dennoch hat mich der Anblick fasziniert.

Der Goldene Tempel liegt in Mitten eines rechteckigen Pools, dem Amrit Sarovar (Nektarsee). Von diesem See leitet sich der Stadtname Amritsar ab. Das Wasser des Nektarsees gilt den Sikhs als heilig, weshalb viele Pilger im Wasser baden gehen. Im Wasser reflektiert sich das goldene Licht des Tempels. Umrandet wird der Nektarsee von einem breiten Weg, auf dem die Pilger im Uhrzeigersinn laufen. Ganz außen befindet sich eine Palastanlage.

Der Goldene Tempel in der Mitte des Nektarsees ist das Zentrum des Sikhismus und heißt eigentlich Harmandir Sahib (auch Hari Mandir). Übersetzt heißt das Gottestempel.

Der Sikhismus ist eine Religion, in der Ideen aus dem Islam mit denen des Hinduismus gemischt wurden. Zurück geht der Sikhismus auf den hinduistischen Prediger Guru Nanak (1469-1539), der zwar wichtige Leitgedanken aus dem Hinduismus übernahm, allerdings dem Kastensystem und den unzähligen Göttern den Rücken kehren wollte. Somit wird im Sikhismus ein einziger gestaltloser Gott verehrt.

Das Auflösen der Kasten wird eindrucksvoll dadurch symbolisiert, dass alle Männer denselben Nachnamen Singh tragen, was Löwe bedeutet. Das macht es mir fast unmöglich, die zahlreichen neuen WhatsApp-Kontakte aus Amritsar auseinanderzuhalten.

Die Sikhs haben ein recht einheitliches Auftreten, womit sie sich von den restlichen Indern deutlich abheben. Vor allem die Männer demonstrieren ihre Verbundenheit durch die Fünf Ks:

  1. Kes: Ungeschnittenes, aber gepflegtes Haar, das unter einem Turban getragen wird
  2. Kangha: Ein Kamm (traditionell aus Holz) zur Pflege der Haare
  3. Kirpan: Ein Dolch, oft auch Schwert, mit dem die Sikhs zeigen, dass sie die Armen beschützen
  4. Kara: Ein Armreif am rechten Arm, mit dem früher Schwerthiebe abgefangen werden sollten
  5. Kachera: Eine Unterhose, die bis zu den Knien reicht. Ist heutzutage meistens unter einer längeren Hose verborgen

Als wir den Goldenen Tempel das zweite Mal umrundet hatten, gingen wir auf den Vorplatz um uns etwas zu entspannen. Kurz darauf sprach uns ein alter Sikh an und führte etwas Smalltalk mit uns. Schließlich lud er uns zu einer Führung durch den Tempel ein.

Bina im Gespräch mit Arvinder Singh

Gleich am Anfang erzählte er uns, dass alle Menschen gleich im Tempel sind – unabhängig von Alter, Nationalität oder Religion. Wer zusammen den Tempel besucht, wird wie ein Bruder bzw. eine Schwester behandelt. Und Tatsache: Regelmäßig sprach mich Arvinder Singh mit Bruder an.

Als erstes zeigte er uns eine Kochstelle, wo in einem riesigen Topf Gemüse auf einer Feuerstelle gekocht wurde. In einen Topf passen 2.000 Portionen.

Direkt im Anschluss ging es in die Speisehalle, in der hunderte Pilger kostenlos verköstigt wurden. Nicht nur das Essen ist kostenlos. Zu den Gratisangeboten der Sikhs zählt ein Shuttle-Service zwischen Tempel und Bahnhof, man kann kostenlos im Pilgerheim übernachten und für den Eintritt zu allen Gebäuden einschließlich des Sikh-Museums muss man auch nichts zahlen. Das nenne ich wahre Gastfreundschaft!

Nach dem Speisesaal hat uns Arvinder über einige Treppen auf ein Dach gebracht, das wir wohl selber nicht gefunden hätten. Von hier aus konnten wir den Tempelkomplex von oben bewundern. Außerdem hat uns der stolze Sikh von seiner Kultur und der Geschichte des Tempels erzählt. Leider war es nicht immer einfach, den Ausführungen zu folgen. Dennoch konnten wir einiges mitnehmen.

Nachdem wir das Dach verlassen hatten, führte uns Arvinder zu den Stellen, wo das indische Brot Chapatti hergestellt wird. An einer Ecke gab es zwei Maschinen, die jeweils 5.000 Chapattis pro Stunde backen. Auf einer anderen Seite der Halle saßen einige Gruppen, die das Brot von Hand herstellten. Wir beide durften uns hier auch darin probieren, den Chapatti-Teig auszurollen.

In einem benachbarten Raum sahen wir weitere gigantische Kochtöpfe.

Als nächstes zeigte uns Arvinder, wie das Besteck und die tausenden Teller abgewaschen werden. In einer Menschenkette wird das schmutzige Alu-Geschirr zur ersten Reinigungsstation gebracht. Ab hier durchlaufen die Teller folgenden Prozess:

  1. Abklopfen der Essensreste an einem großen Eimer.
  2. Teller werden nach hinten geworfen, wo die nächsten Sikhs die Teller in einem riesigen Behälter sammeln.
  3. Sobald die Behälter voll sind, wird das Geschirr zu einer „Waschstraße“ getragen, wo sich mehrere Waschrinnen befinden.
  4. An diesen Waschrinnen stehen hunderte Pilger, die das Geschirr abwaschen.
  5. Das Geschirr wird von einer Waschrinne zur nächsten getragen, sodass jeder Teller mehrere Male gereinigt wird.
  6. Zum Ende hin wird das Geschirr immer sauberer und schließlich wird es gestapelt.

Wir selbst bemerkten schon, dass keine Angestellten die Arbeit verrichten, sondern dass die Pilger selbst ihre Teller säubern. Arvinder erklärte uns, dass es den Sikhs hilft, den Kopf nach dem Essen frei zu bekommen.

Bina hilft beim Abwasch

Zu den Besuchern des Tempels zählten auch wir, weshalb wir uns auch an die Waschbecken stellten und das Geschirr spülten. Zugegeben, Bina hat deutlich länger durchgehalten und hatte sichtlich Spaß dabei. Ich hingegen empfand das laute Scheppern der Teller sehr unangenehm und die Situation eher stressig. Davon unberührt blieb aber meine Faszination für diese Parallelwelt. Pro Tag werden etwa 80.000 Leute kostenlos verköstigt, was dadurch funktioniert, dass alle an einem Strang ziehen. Jeder hilft beim Schnippeln vom Gemüse, beim Brotbacken oder eben beim Abwasch. Dabei entstand bei mir ein Gemeinschaftsgefühl, als wäre ich Teil einer riesigen Familie.

Wie faszinierend das alles ist, vermittelt dir unser neues Video. Lehne dich für 3 Minuten zurück und lass die Atmosphäre auf dich wirken:

Unser alter Bruder führte uns weiter um den Nektarsee. Er erklärte uns die verschiedenen Abbildungen, Schreine, ausgestellten Waffen. Der Tempel füllte sich immer mehr und immer wieder unterbrachen uns meist junge Pilger, die ein Foto mit uns machen wollten. Doch das war weder für uns noch für Arvinder ein Problem. Im Gegenteil: Es machte uns sogar großen Spaß, mit den Sikhs zu plaudern und von ihnen die Bedeutung der Heiligtümer erklärt zu bekommen. Die Offenheit der Sikhs ist überwältigend.

Nach dem uns Arvinder noch durch das Akal Takht (dem Sitz der Tempelverwaltung) geführt und uns zur Erfrischung mit einem Mango-Shake versorgt hatte, verabschiedeten wir uns. Dazu tauschten wir mit allen gerade umstehenden Indern die WhatsApp-Nummern aus. Auf was wir uns da einließen, erfuhren wir erst später. Zum Abschied erklärte uns Arvinder erneut, wie wir am besten im Tempel übernachten könnten.

Nach der Tour haben wir Abendbrot gegessen und uns schließlich einen Schlafplatz gesucht. Dazu liefen wir entlang des Nektarsees. Viele Pilger hatten schon ihr Lager auf dem Weg aufgeschlagen. Wir fanden einen kleinen Platz an einer Säule und legten uns auf den Marmorboden.

Unser Schlafplatz im Goldenen Tempel

Wir hatten einen Schlafsack mitgebracht, sodass wir etwas weicher liegen konnten. Damit uns niemand etwas klaute, diente unser Rucksack als Kopfkissen. Überall im Tempel wird davor gewarnt, dass auch Taschendiebe im Tempelkomplex ihr Unwesen treiben. Falls du auch direkt im Tempel übernachten möchtest, solltest du deine Wertgegenstände möglichst gut sichern.

Die Nacht war nicht sehr erholsam. Der Boden ist unbequem und wir wurden 2:30 Uhr geweckt, weil zu diesem Zeitpunkt der Tempel geputzt wird. Wir suchten uns eine neue Ecke zum Schlafen, doch 4:45 Uhr weckte uns ein Wachmann, indem er mit dem Speer vor unserem Kopf auf den Boden schlug. Auch wenn wir fix und fertig waren: Das war es wert. Selbst in der Nacht hat der Tempel eine magische Ausstrahlung und davon hätten wir nichts mitbekommen, wenn wir woanders übernachtet hätten. Rund um die Uhr tickt das Leben im Goldenen Tempel. Selbst die Küche ist 24 Stunden am Tag geöffnet.

Nur der Goldene Tempel auf dem Nektarsee ist nachts für einige Stunden geschlossen. In den meisten Reiseführern steht, dass der Tempel von 22:00 bis 04:00 Uhr morgens geschlossen ist. Arvinder erklärte uns, dass er nur von 22:30 Uhr bis 1:30 Uhr nicht betreten werden kann. Da wir versucht haben zu schlafen, wissen wir die Öffnungszeiten nicht genau.

Die Stimmung am Abend und in den frühen Morgenstunden war etwas, was ich bis dahin nicht kannte und noch immer nicht in Worte fassen kann. Auf jeden Fall kann ich jedem nur empfehlen, die Nacht im Goldenen Tempel zu verbringen.

Alternativen zur Übernachtung im Tempel

Unser Favorit für eine Übernachtung in Amritsar war also direkt im Tempel zu schlafen. Falls du das nicht möchtest, dann gibt es natürlich auch noch zwei bequemere Optionen:

Übernachtung im Pilgerheim: Die Tempelverwaltung hat ein Pilgerheim, indem ausländische Besucher bis zu drei Tage kostenlos übernachten können. Es gibt Privatzimmer und Schlafsäle. Die Anforderungen, die du erfüllen musst, sind gering: kein Tabak, kein Alkohol, kein Sex. Wenn du die Gastfreundschaft der Sikhs in Anspruch nehmen möchtest, halt diese einfachen Bedingungen ein. Schließlich wirst du auf heiligen Gebiet übernachten. Wenn du das nicht packst, dann nehme bitte die nächste Option in Anspruch.

Die Unterkünfte (Guru Arjan Dev Niwas und Guru Ram Das Niwas) befinden sich auf der Seite der Bade-Ghats. Um eine Spende wird gebeten.

Unterkünfte neben dem Tempelkomplex: Auf deinem Weg zum Tempel wirst du wahrscheinlich von zahlreichen Einheimischen angesprochen werden, die dir ein Zimmer verkaufen wollen. Die Preise starten bei 350 Rupien für ein Doppelzimmer.

Welche Übernachtungsoption du auch wählst: Stehe früh vor dem Sonnenaufgang auf. Ab 5 Uhr solltest du im Tempel sein. Die Atmosphäre ist selbst dann noch spannend, wenn du schon am Vorabend den Sonnenuntergang vom Tempel aus gesehen hast.

Im Goldenen Tempel von Amritsar

Wenn ich bisher vom Goldenen Tempel sprach, meinte ich den gesamten Gebäudekomplex. Genau genommen ist der Goldene Tempel jedoch nur das Gebäude auf dem Nektarsee, das über die Brücke erreichbar ist.

Wir haben uns das Heiligtum erst am Morgen angesehen, weil wir dachten, dass wir dann nicht so lange anstehen müssen. Doch da lagen wir vollkommen daneben. Die Warteschlange vor dem Goldenen Tempel ist immer lang. Wir mussten etwa zwei Stunden warten, bis wir im Inneren waren.

In der Warteschlange ist das Gedränge groß

Im Inneren des Goldenen Tempels werden den ganzen Tag Verse aus dem Adi Granth, dem heiligen Buch der Sikhs rezitiert. Der Gesang wird von Musikern untermalt. Das Ganze wird im kompletten Gebäudekomplex übertragen, sodass die Musik schon die Atmosphäre am Tag zuvor bestimmte. Nun konnten wir die Zeremonie live beobachten. Allerdings war das Gedrängel recht groß, sodass ich diesen Moment gar nicht richtig auf mich wirken lassen konnte. Da der Klangteppich aber schon die ganze Zeit die Atmosphäre bestimmte, war das kein Drama.

Sonst sahen wir noch einige Herren, die in Büchern gelesen haben. Insgesamt muss ich sagen, dass der Besuch des Inneren für mich nicht das Highlight war. Es war interessant, wie die Priester die riesigen Seiten des Heiligen Buches hin und her blätterten.

Wirklich begeistert war ich aber von der Offenheit der Sikhs. Die Herzlichkeit, mit der wir aufgenommen wurden, habe ich noch nie erlebt.

Als Arvinder uns anfangs sagte, dass alle im Tempel wie eine Familie sind, hielt ich das für eine leere Floskel. Doch mittlerweile habe ich begriffen, wie ernst das gemeint war und fühle mich den Sikhs selber sehr verbunden. Die Sikhs haben mir gezeigt, wie aufgeschlossen man Fremden gegenüber sein kann. Für diese unvergessliche Zeit bin ich zutiefst dankbar.