Sabrina liebt zwar ihren Mann, einen Landwirt, über alles, trotzdem sehnt sie sich manchmal in die Stadt zurück. Alles wird anders, als sie ein sterbendes Eichhörnchen vor der Tür findet …
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“Ich würde so gern mit dir ein paar Tage nach Paris fahren”, seufzte Sabrina sehnsüchtig.
“Dat geht nich, Deern”, erwiderte ihr Mann. “Du hättest eben keinen Landwirt heiraten dürfen.”
Jörn konnte die Tiere nicht allein lassen, aber darüber hinaus war er nur hier auf seinem Hof glücklich. Schon nach Hamburg fuhr er nur im Notfall. Er gab ihr einen Kuss und erhob sich vom Sofa: “Ich muss nach Veronika sehen. Geh’ ruhig schon schlafen, Liebling. Es kann spät werden.”
Veronika war eine Kuh, genauer gesagt eine Färse, die zum ersten Mal kalbte, und Jörn wollte sie in ihren schwersten Stunden nicht allein lassen. Sabrina ertappte sich dabei, eifersüchtig auf Veronika zu sein. Vom Verstand her begriff sie natürlich, dass Jörn sich um die Tiere kümmern musste, aber für sie als frisch verheiratete Ehefrau war es manchmal schwer, hinzunehmen, dass sie immer vorgingen.
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Eigentlich hätten Jörn, der Landmensch, und Sabrina, die Grossstädterin, sich gar nicht heiraten dürfen. Aber als sie ihn sah, war es um sie geschehen. Das geschah vor fast zwei Jahren auf der Landstrasse. Sie kam von Hamburg, wollte zu einer Freundin, die neuerdings in der Nähe von Stade wohnte, und verfuhr sich hoffnungslos.
Schliesslich hielt sie an und sah sich nach jemandem um, der ihr helfen könnte. Ein Mann von etwa Mitte Dreissig, der einen nahe gelegenen Bauernhof ansteuerte, hielt seinen Traktor an, sprang herunter und gab ihr Auskunft. Es war Jörn. Er war gross und breitschultrig, ruhig und selbstbewusst, und seine hellen Augen im braungebrannten Gesicht lächelten freundlich. Ihr Herz stand sofort lichterloh in Flammen. Auch Jörn fand die junge Frau sympathisch, sie kamen ins Gespräch, sahen sich wieder, aber dass sie die Frau seines Lebens war, entdeckte er erst einige Monate später. Nun stand ihrer Hochzeit nichts mehr im Wege.
Seitdem bemühte sie sich, eine gute Landfrau zu sein. Aber trotz aller Liebe zu Jörn packte sie manchmal die Sehnsucht nach der Stadt oder nach einer schönen Reise. Dazu kam, dass sie sich immer noch etwas fremd fühlte in diesem Haus, das Jörn von seinen Grosseltern geerbt hatte und das sie natürlich fertig eingerichtet und traditionsbeladen vorfand.
Einige Wochen später hatte sie Geburtstag, und Jörn schenkte ihr eine viertägige Reise nach Paris, die er per Internet gebucht hatte. Er sagte lieb dazu: “Ich kann dich leider nicht begleiten, Sabrina, aber mach’ sie für uns beide. Du erzählst mir dann alles.”
Sie war gerührt, aber auch traurig, dass Jörn nicht mitkam. Doch sie sagte sich, dass sie sich daran gewöhnen musste, auch mal allein etwas zu unternehmen und beschloss, sich auf Paris und über Jörns Grosszügigkeit zu freuen.
Aber dann kam alles ganz anders …
Zwei Tage vor ihrer Reise öffnete sie morgens die Haustür. Ein Eichhörnchen mit rötlich glänzendem Fell und buschigem Schwanz sass davor und sah sie aus dunklen Knopfaugen an. Erst nach einer Weile drehte es sich um und lief davon.
Ein wenig später wollte Sabrina zu Jörn, der in einem der Ställe beschäftigt war, und öffnete wieder die Tür. Welch ein Anblick bot sich ihr dar! Das Einhörnchen von vorhin lag leblos ausgestreckt vor der Schwelle, und drei winzige Jungen saugten hungrig und vergeblich an seinen Zitzen.
Als Sabrina begriff, dass das sterbende Eichhörchen ihr seine Jungen hatte anvertrauen wollen, überwältigte sie ein nie gekanntes Gefühl von Rührung. Es war das erste Mal, dass sie sich einem Tier derart nahe fühlte.
Die tote Eichhörnchenmama würde sie später begraben, beschloss sie. Sie legte die Winzlinge in ein weich ausgepolstertes Körbchen und ging zu Jörn, um sie ihm zu zeigen und die Geschichte zu erzählen. Sie wollte ihn auch fragen, ob er wusste, wie man Eichhörnchen aufzieht.
Jörn konnte seinen Blick ebensowenig von den drei kleinen Waisen wenden wie sie, sagte, dass Eichhörnchen sich von Pflanzenstoffen ernähren und man bei den Kleinen mit Milch und Haferschleim sicher nichts falsch machen konnte.
“Ich will das gern übernehmen”, schlug er vor.
Das lehnte sie ab. Die Eichhörnchenmama hatte ihre Babys doch ihr anvertraut, und die Verantwortung wollte sie nicht abgeben.
Sie merkte wohl, dass er sich liebend gern selbst um die Kleinen gekümmert hätte: “Du fährst doch übermorgen nach Paris”, gab er zu bedenken.
Nun, aus der Reise wurde nichts. Sie blieb bei Raymond, Louis und Denise, wie sie die drei Kleinen nannte.
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Von nun an war Sabrina rund um die Uhr für ihre Adoptivkinder da. Auf dem Herd köchelte immer irgendein Topf mit Eichhörnchennahrung. Das quirlige Trio entwickelte sich prächtig, bewegte sich bald im ganzen Haus. Natürlich nagten sie einiges an und machten Schmutz, aber das liess sich verschmerzen. Sabrina hielt oft Zwiesprache mit der toten Eichhörnchenmama, fragte sie, ob sie alles richtig mache. Jörg meinte überzeugend, ja. Sie hätte keine bessere Ersatzmutter für ihre Kleinen finden können. Und dabei sah er sie zärtlich an.
Raymond, Louis und Denise gingen schon bald auch draussen auf Entdeckungsreise. Die drei hatten schon im Haus an den Vorhängen Klettern geübt, jetzt liefen sie immer geschickter die hohen Baumstämme hinauf und herab. Sabrina und Jörn sahen ihr rotes Fell im grünen Laubwerk aufblitzen. Die beiden standen nämlich oft da und sahen den Kleinen zu. Wirkliche Eltern konnten nicht stolzer sein auf ihren Nachwuchs.
Heute sind ihre Einhörnchenkinder längst erwachsen und “aus dem Haus”, kommen aber noch manchmal, um Jörn oder Sabrina aus der Hand zu fressen. Sabrina hat es nie bereut, nicht nach Paris gefahren zu sein. Auch Hamburg fehlt ihr überhaupt nicht mehr! Dank der sterbenden Eichhörnchenmama, die ihr ihre Jungen anvertraute, fühlt sie sich völlig integriert in diese ländliche, naturverbundene Welt.
Besonders glücklich aber fühlen sich Sabrina und Jörg, seit sie wissen, dass bald ihr eigenes Kind, ein kleiner Junge, wie die kürzlich vorgenomme Ultraschall-Untersuchung ergeben hat, in der Wiege liegen wird …
ENDE