Oberflächlich betrachtet ist die wahre Geschichte, die ich hier erzählen möchte, kurios. Es ist die Geschichte einer kleinen Stadt im US-Bundesstaat Ohio, die sich ein sehr seltsames Maskottchen leistete, das die Menschen über Jahrzehnte faszinierte. Im Kern handelt es sich jedoch um eine traurige Story über einen Mann, der im Leben keine Spuren hinterließ, jedenfalls keine, die aufgespürt werden konnten, und im Tod als Objekt makaberer Neugierde lange keine Ruhe fand.
Am 6. Juni 1929 wurde die Leiche eines afroamerikanischen Mannes mittleren Alters an einer Straße in der Nähe von Sabina, Ohio gefunden. Sabina hatte damals knapp 1,500 Einwohner, doch der Verstorbene gehörte nicht zu ihnen. Er trug keinen Ausweis bei sich, lediglich eine kleine Summe Geld und ein Zettel mit der Adresse 1118 Yale Ave. in Cincinnati befanden sich in seinen Taschen. Die Polizei von Cincinnati überprüfte die Adresse und stellte dabei fest, dass die 1118 Yale Ave. nur ein leeres Grundstück war. Der nächste Nachbar des unbebauten Fleckchens hieß Eugene Johnson. Daraus entstand der Entschluss, dem Toten den Namen Eugene zu geben. Wie Mr. Johnson darüber dachte, ist nicht überliefert.
Die Menschen in Sabina gewöhnten sich an den mumifizierten Leichnam, betrachteten ihn gar als eine Art lokale Berühmtheit. Aus anderen Orten reisten Leute an, um den auf einer Couch platzierten "Eugene" zu sehen. Regelmäßig wechselten die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts seine Kleidung und staubten ihn ab, damit er stets einen guten Eindruck hinterließ. Schätzungen nach hatte "Eugene" bis zum Jahr 1964 rund 1,5 Millionen Besucher empfangen, von denen keiner dort war, um einen Beitrag zu seiner Identifizierung zu leisten. Sie wollten ihn einfach nur sehen. Manchen Leuten reichte freilich nicht einmal das, was letztlich dazu führte, dass "Eugene" doch noch sein Begräbnis bekam.
Immer wieder stahlen Jugendliche den mumifizierten Leichnam und verwendeten ihn für Streiche. Daran konnten auch die Drahtgitter, die das Bestattungsinstitut zum Schutz anbrachte, nichts ändern. Das Maß war voll, als "Eugene" 1964 auf einer Bank nahe der Ohio State University auftauchte. Geschmacklose Scherzbolde hatten ihn dort hingesetzt, um in der Nacht Studenten zu erschrecken, was ihnen gelungen sein dürfte. Nun fiel die lange überfällige Entscheidung, "Eugene" zu begraben. Am 21. Oktober 1964 fand der unbekannte Tote endlich seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof von Sabina.
Die Inschrift auf seinem Grabstein lautet schlicht:
Eugene, Found Dead 1929, Buried 1964
Amerikanische Mumien
Die Geschichte von Eugene erinnert mich an die lange Reise des Elmer McCurdy, die freilich einige signifikante Unterschiede zu der Mumie aus Sabina aufweist. Elmer McCurdy war ein Zug- und Bankräuber, der 1911 während eines Schusswechsels bei Bartlesville, Oklahoma starb und dessen konservierter Körper vom zuständigen Bestatter als Attraktion ausgestellt wurde, da es niemanden gab, der für die Bestattung aufkommen wollte. Die Mumie ging danach durch so viele Hände, dass die Menschen mit der Zeit vergaßen, womit sie es wirklich zu tun hatten, und Elmer für eine Wachsfigur hielten. Erst 1977, nach 60 Jahren als Ausstellungsstück, erhielt der "einbalsamierte Bandit" eine Beerdigung. Die wahre Identität von "Eugene" kommt dagegen mit großer Wahrscheinlichkeit niemals ans Licht.
In den Quellen zur Geschichte der Mumie aus Sabina, Ohio tauchen teilweise verschiedene Daten auf. So wird das Sterbejahr des Unbekannten gelegentlich mit 1928 statt 1929 und das Jahr seines Begräbnisses mit 1963 anstelle von 1964 angegeben. Dies deckt sich natürlich nicht mit der Inschrift auf "Eugenes" Grabstein. Nur dieser kann heute noch in Sabina besichtigt werden.
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