Plötzlich brach die Sonne
1.
Zusammen mit einem Kasten Wasser und einem Kasten Bier packte ich eine gehörige Portion Sonnenschein in den Kofferraum meines Audi. Ich legte Kühlakkus zwischen die Flaschen und wickelte die Kästen sorgfältig ein in nasse Handtücher, um den Bogen der Harmonie, vibrierend zwischen dem lichtdurchfluteten Himmel und dem kalten Bier, möglichst bis zum Nachmittag gespannt zu halten. Der Ölstand stimmte aufs Haar, Kühlwasser hatte ich nachgefüllt, der Tank war voll bis an den Rand. Die Dinge standen in ihrem richtigen Verhältnis zueinander.
Ich setzte mich auf die Treppe vor der Haustür – gemächlich rumpelte in der Ferne die Schwebebahn durchs Tal –, zündete mir lächelnd eine Zigarette an und dachte an Carmen, die jeden Augenblick aus Richtung der aufgegangenen Sonne auftauchen musste.
Drei Wochen zuvor war sie in mein Leben getreten. Ich hatte mich zu der alten Turnhalle in der Nähe meiner Wohnung begeben, um meinem Körper etwas Gutes zu tun. Doch anscheinend hatte ich mich im Datum geirrt. Denn statt der von mir erwarteten Gymnastik wurde Kampfsport gegeben. Ich trat also durch die Hallentür und lief in ihren Schrei hinein. KIAY! Wenn ich mich an ihre Schreie erinnere…
Einige Typen umringten sie. Ich sah es kommen, sie würden an ihren Haaren reißen, würden sie anspringen und würgen und sämtliche Knochen ihr brechen, in Fetzen reißen den weißen Stoff und ihre Haut unter dem Leinen dazu. So sah ich es kommen. Aggressivität lag in der Luft. Einer griff sie nun an, ein Kerl, ein Schrank von einem Mann, einer, der mich ungespitzt in den Boden rammen würde, würde ich auf der Straße an ihn geraten. Ungelogen, ein Löwe von einem Mann, und seine riesigen, behaarten Hände, wahre Tatzen, Klauen, schossen auf ihren Hals zu, der hell und ungeschützt unter ihrem schwarzen Haar schimmerte. Von zarter und weicher Offenheit war dieser Hals, ein Gazellenhals, eine Löwenbeute.
Beim Anblick dieses anstürmenden Kerls, dessen Hände sich jeden Moment um ihren Hals legen und zudrücken würden, stockte mir der Atem, ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als dass dieses verletzliche Wesen in wenigen Augenblicken zerschlagen auf der Matte liegen würde. Eine vernichtete Schönheit unter ausgerissenen Haaren.
Doch ich hatte eine hauchdünne, bebende Ader an ihrem Hals übersehen. Sie atmete tief ein, und all ihre Energie auf den Punkt in ihrer Körpermitte konzentrierend stellte sie sich, leicht in den Knien einknickend, hinein in die Vorwärtsbewegung des Angreifers. Und im rechten Augenblick – KIAY! schrie sie – sprang ihre gesammelte Kraft über in eine blitzende, fließend ausgeführte Abwehrtechnik, mit welcher sie den Mann in Windeseile und scheinbar mühelos auf die Matte und unter einen angedeuteten Ellbogencheck brachte.
Wie war ich nur auf das Bild von Löwe und Gazelle gekommen?
Ich meldete mich zu einem Probetraining an, und die Woche danach betrat ich wieder die Halle. Mir war ihr Schrei nicht, und nicht die fließende Beweglichkeit ihres Körpers, aus dem Kopf gegangen.
Ich hatte die Woche genutzt, um mich ein wenig in Form zu bringen. Verausgabte mich bei Liegestützen. Machte Gymnastik wie ein Besessener. Ich stand morgens um sieben Uhr auf und lief durch den Park. Ich stand kurz davor, rohe Eier zu schlürfen, der Gedanke an sie brachte mich fast dazu. Meine Mitbewohner hielten mich für verrückt, was ich wohl auch war, aber jedenfalls, als ich dann in Trainingsklamotten erneut die Halle betrat, fühlte ich mich nicht allzu lächerlich in meiner Haut. Wenn ich den Bauch einzog, kam ich mir schon fast durchtrainiert vor. Ich glaubte wahrhaftig, mit den anderen, mit ihr, konditionell mithalten zu können.
Schon das Aufwärmen brachte mich auf den Boden der Realität, in diesem Fall die Matte, zurück, schwer atmend schmiss ich das Handtuch, das Blut hämmerte in meinen Ohren, ich sah kaum noch was anderes als Flimmern vor den Augen und verfluchte den Augenblick, da ich beschlossen hatte, mir so etwas anzutun.
Doch da! Hatte sie mich nicht angelächelt? Sie hatte mich angelächelt. Ein Blick von ihr brachte mich wieder auf die Beine. Und ich rannte um mein Leben.
Nach dem Aufwärmen zeigte mir der Trainer ein paar Falltechniken und den Rest der Zeit kugelte ich kreuz und quer über die Matte. Rolle vorwärts, Rolle rückwärts, bis ich nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Und so waren es wohl nicht meine sportlichen Leistungen, die sie bewogen, mich anzusprechen. Rätselhaft ist der Grund, aus dem die Liebe entspringt, vielleicht ist es ein Lächeln im rechten Augenblick, vielleicht auch nur für einen Augenblick. Jedenfalls wollte sie mit mir im Anschluss an das Training ein Bier trinken gehen. Nur wir beide. Und dort in der Kneipe, ein Glas vor mir und eine Selbstgedrehte zwischen Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand, fühlte ich mich weit mehr in meinen Element, als kurz vor einem Kreislaufkollaps stehend inmitten einer gehechteten Vorwärtsrolle.
Nicht, dass wir schon an diesem Abend aneinandergehangen hätten und wie eines von Platons Zwitterwesen Richtung Bett gekugelt wären. Ich küsste ihr lediglich zum Abschied sanft die Wange und wankte alleine in jener milden Sommernacht, eine Zigarette im Mundwinkel und herrlich euphorisch gestimmt, unter strahlenden Laternen und Sternen nach Hause. Aber bereits den Abend nach unserer ersten Verabredung sahen die Sterne Carmen und mich Hand in Hand aus der Kneipe kommen, unter Bäumen stehen sahen sie uns und engumschlungen, lachend weitergehen, weitergehen bis zu einem Torweg, wo wir, versinkend zwischen unseren Lippen, herausfanden, dass wir gut zusammenpassten.
In der Woche danach ließen wir kaum voneinander ab. Die Welt eines Unglücklichen ist eine andere als die des Glücklichen, schrieb Wittgenstein. Unsere Welt jedenfalls war ein strahlendes Kleinod. An dem Morgen, da ich rauchend in der Sonne vor meiner Haustür saß, dachte ich vor allem an eine unserer Nächte. Wir haben lange geredet, in allen unseren Nächten haben wir auch lange geredet, und in jener Nacht habe ich ihr alles erzählt, was ich über die Philosophen wusste. Carmen lag neben mir und blickte mich aus großen, glänzenden Augen an. Wie sie lächelte. Ich gab alles, um dieses verliebte Lächeln in ihrem Gesicht zu bewahren. Mein Geist brannte, und hell lodernd verschmolz ich in jener Nacht, in diesem zerwühlten Bett, die abendländische Philosophiegeschichte zu in allen Regenbogenfarben glitzernden Edelsteinen, welche ich Carmen zu Füßen legte. Wahrlich, sie brachte mein Blut zum Tanzen. Ein ums andere Mal fiel sie mir glücklich lachend in den Vortrag, so nahmen wir Nietzsches schwerstem Gedanken küssend die Schwere. Kiay! Die Welt eines Glücklichen ist wirklich eine andere.
Später in jener Nacht, als ich eine Zigarette im Mund die Kondome neben dem Bett betrachtete, fragte Carmen mich, ob ich zu einem Festival mitfahren wolle. „Hast du am Wochenende schon was vor“, fragte sie mich und griff nach den Zigaretten, „Da ist ein Festival auf der Loreley. Komm doch mit! Ich will mit dir dahinfahren.“
Was ich geantwortet habe, brauche ich wohl nicht zu erzählen. Sie küsste mich, und ihre Küsse waren groß und tief und breit. Ein Meer war ihr Mund, ein Eintauchen und ein Verschlingen, ein Anspülen an die heißen Ufer des versunken geglaubten Atlantis. Versprechend und flehend, fordernd wie wollende Hände küsste sie, ein Lachen und ein Schreien war ihr Mund, ein pulsierender Schoß, Worte und Schweigen jenseits von Gut und Böse gebärend, jeglicher Hemmung entbehrend. Ich war auf den glitzernden Strom der Sage gestoßen, und ihre Lippen waren die aus der Tiefe sprudelnde Quelle dieses Flusses. Dann zündete sie sich die Zigarette an. „Wie war das noch mal?“, fragte Carmen mich und spreizte ihre Beine, „Es ist nichts im Bewusstsein, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist?“ Sie griff nach meiner Hand. „Mach’ mich bewusster!“, flüsterte sie und hob mir ihr Becken entgegen. Wahrlich, ich trieb auf das Goldene Zeitalter zu und hielt die Schlüssel zu den Pforten des Paradieses in meinen Händen.
Lächelnd warf ich bei diesen Erinnerungen die Zigarette auf die Straße. Gleich würde sie kommen. Ich verging beinahe vor Sehnsucht, denn die Nacht zuvor hatten wir uns ausnahmsweise nicht gesehen. Aber diese Durststrecke würde gleich vorbei sein. Alles war bereit. Der Himmel reinstes Blau. Ich hatte das Gefühl, als wenn mir jener Tag entgegenlächelte wie zwei sich öffnende Schenkel. Endlich erfüllte sich meine lang gehegte Sehnsucht nach Liebe.
Carmen kam erst eine ganze Weile und etliche Zigaretten später, und sie kam nicht aus der erwarteten Richtung. Ich gab diesem Zeichen aber keine Bedeutung, sofort hing ich an ihren Lippen, weit davon entfernt mir noch irgendwelche Gedanken zu machen, nah daran ihr unters Kleid zu greifen. Sie küsste mich sanft auf die Wange und löste sich aus meinen Armen.
„Was meinste“, sagte sie, „Sollen wir mal los?“
Wir holten dann ihre Freundin Lulu ab, ich blieb wartend im Auto sitzen. Hinter meiner Sonnenbrille blinzelnd hockte ich am Steuer, denn Ströme von Sonnenstrahlen fluteten durch den dünnen Stoff ihres Kleides, während sie langsam zum Haus ging.
Carmen war letzte Nacht zu einer Party gegangen und dort abgestürzt, wie sie mir kurz erzählt hatte, nun hätte sie einen dicken Kopf. Sie bat mich, ihr ein wenig Zeit zu geben und sie in Ruhe zu lassen. Ich verstand das schon, einen Kater zu haben, kannte ich. Und doch kann ich nicht leugnen, dass ich im ersten Moment ein wenig davon enttäuscht war, dass sie sich die Nacht vor unserem Wochenende dermaßen betrunken hatte, ohne mich. Diesem Morgen war ein erster Zacken aus der strahlenden Krone gebrochen.
Aber das war vergessen, als ich ihren Gang zum Haus hin beobachtete, und dann kam sie lachend mit Lulu heraus, Carmen schien wieder besserer Dinge zu sein, und ich blinzelte weiter in der Sonne, da die beiden auf mich zu wandelten. „Hallo“, Lulu begrüßte mich mit einem Klaps auf die Schulter, sie setzte sich nach hinten und griff sich gleich ein erstes Bier aus ihrer Tasche.
„Frühstück“, rief sie lachend, ich mochte Lulu von Anfang an, ich spürte, wie ihre gute Laune auf Carmen abfärbte, die mir einen Kuss auf die Wange drückte und die Beifahrertür schloss. Carmen stellte ihre Füße auf die Ablage. Ich schielte zur Seite, ihr Kleid war bis zum Hintern hochgerutscht. Ich spürte, wie mir die Sonne aufmunternd auf die Schulter klopfte. Los ging es.
Ich fahre gerne Auto, vor allem über längere Strecken und wenn die Sonne scheint. Carmen drehte mir Zigaretten und steckte sie für mich in Brand. Abgesehen davon, dass ich dann und wann einen Blick auf ihre Beine riskierte, hielt ich meine Augen und meine Gedanken auf der Straße, ich hatte schließlich einiges zu verlieren im Falle, dass ich uns an einen Baum fuhr. Das Tempo, welches Lulu beim Bier vorlegte, war enorm. Sie meinte nur, noch sei es kalt. Carmen hielt mit ihr mit, was mich wunderte, dachte ich doch, sie könne bei ihrem Kater frühestens am Nachmittag den ersten Alkohol vertragen. Sie meinte aber, dass das Bier gut gegen Kater sei. „Wenn du’s unten behältst“, warf Lulu ein.
Schließlich war die Fahrt zu Ende, wir kurvten durch St. Goarshausen und hoch zur Loreley. Polizisten säumten unseren Weg. Dann kamen die Menschen, die auch aufs Festival wollten, Massen, die ihre Autos am Waldesrand abstellten und Zelte, Schlafsäcke, Kühlboxen schleppend an uns vorüberzogen. Lauter ausgeflippt scheinende Leute in bunten Klamotten, und alle lächelten sie dem, was da kommen mochte, entgegen.
Wir fanden einen Parkplatz, und nachdem wir uns mitsamt unserem nicht unbeträchtlichen Gepäck zwischen Tausenden von Zelten, Autos und VW-Bussen hindurchgearbeitet hatten, vorbei an den Menschenmassen rund um ihre Lagerfeuer und Bierkästen, fanden wir auf einer der Wiesen einen schönen Platz für unsere beiden Zelte. Ich setzte den Kasten Bier, die Tasche mit einem Zelt darin ab und versuchte Carmen zu küssen, mir war danach. Ihr aber nicht, sie sagte, ich solle sie doch erst einmal verschnaufen lassen, und sie klang genervt. Ich fing einen Blick von Lulu auf, in dem so etwas wie Mitleid lag. Damit wusste ich nichts anzufangen. Aber hatte Carmen nicht recht? Wir hatten schließlich einen Haufen Zeugs einen langen Weg geschleppt, ich selbst war schweißgebadet. „Nun gut“, meinte ich also lächelnd zu ihr, „erst die Arbeit und dann das Vergnügen“, und ich machte mich daran, die Zelte aufzubauen. Eines für Carmen und mich, das andere, kleinere, für Lulu. Genau so hatten wir es geplant für unsere Sommerwochenendnächte auf der Loreley.
Doch es kam anders. Ich blicke aus dem Fenster, eine Zigarette hängt erkaltet in meinem Mundwinkel, es regnet, unaufhörlich regnet es. Nietzsche schrieb, ob des Augenblicks, da er den Gedanken der Ewigen Wiederkunft des Gleichen empfangen habe, ertrage er diesen Gedanken. Kann ich da hintenanstehen und verzweifeln? Nein, die Augenblicke der Vollendung sind des Glücks genug, um auch ohne Paradies weiterleben zu können. Schließlich ist es großer Stil, den Fluss der Dinge, und nicht das Lächeln, sein zu lassen.
Ich wende mich also vom Regen draußen ab und meinem Schreibtisch zu. Regenbögen schillern über den Seiten, die ich geschrieben habe. Ich versuche, ein Band zu knüpfen zwischen der Welt des Glücklichen und der des Unglücklichen. Spanne Sätze zwischen zwei Pole, zwischen ein lachendes und ein weinendes Auge, auf dass die Wörter zu Tänzern werden auf diesem luftigen Hochseil über dem gähnenden Abgrund, hinwegtanzend über alles Schwere, alles lebensmüde und verzweifelt Machende…
An besagtem Tag auf der Loreley hatte ich mein Hemd ausgezogen und die ersten Heringe in den Boden gerammt. Ich spürte, dass Carmen mich beobachtete, und es war das erste Mal, dass ich mich unter ihren Blicken nicht wohl in meiner Haut fühlte. Ich beachtete das nicht weiter, sondern bearbeitete die Heringe mit dem Hammer. Einer verbog sich, irgendwie gerieten die Dinge aus ihrem richtigen Verhältnis zueinander. Plötzlich war ich beunruhigt, ich spürte, wie sich die ersten Sonnenstrahlen durch den Schweiß in meine Haut brannten. Mir fiel ein, dass ich die Sonnenmilch vergessen hatte, aber in diesem Moment zauberte Lulu eine Sektflasche aus ihrer Tasche.
„Jetzt lasst uns doch erst mal auf unsere Ankunft anstoßen“, rief sie und mit dem Hammer ließ ich auch meine Unruhe in das Gras fallen. Lulu jagte den Sektkorken quer über die Wiese und nahm den ersten Schluck, einige Sonnenstrahlen brachen sich in den Sekttröpfchen auf ihren Lippen, sie lächelte breit, meinte: „Wir haben die Sonnenmilch vergessen!“
Lulu reichte mir die Flasche, und ich trank. Lulu war schwer in Ordnung, sie brachte mich noch ein letztes Mal an diesem Tag zum Lächeln, denn nun drehte ich mich zu Carmen um. Ich hatte immer noch dieses Lächeln und hielt ihr es mit der Flasche hin. Die Sonne spielte mit dem grünen Glas in meiner Hand und warf übermütig mit Lichtreflexen um sich. So etwas entging mir noch nie, und so behielt ich mein Lächeln noch. Doch irgendwann wird jeder lernen, dass der Grad zwischen Himmel und Hölle ein schmaler ist. Carmen knüpfte das Oberteil ihres Kleides auf und rollte den dünnen Stoff um ihre Hüften zusammen, ihr Bauchnabel lag frei wie eine offene Blüte in der Sonne. Ablecken wollte ich jeden einzelnen der winzigen, glänzenden Schweißtropfen zwischen ihre Brüsten, und wie sollte ich da mein Lächeln verlieren?
Ich beugte mich vor, doch leise sagte Carmen zu mir:
„Lass uns bitte ein bisschen spazieren gehen, ich habe dir was zu sagen.“ Wir sahen uns an, und in diesem Augenblick brach mir der Schweiß aus allen Poren, mein Lächeln starb. Es war ganz einfach so, dass mir schlagartig klar wurde, was Carmen auf dem Herzen lag, nun endlich las ich die Zeichen. Carmen war an diesem Morgen eben nicht aus Richtung der aufgegangenen Sonne aufgetaucht. Sie nahm mir die Flasche aus der Hand und trank einen kräftigen Schluck, dann stand sie auf und schlang sich ein Tuch um ihre nackten Brüste.
Wenig später saßen wir in einem Waldstück im Gras, ließen Zigaretten in eine leere Bierflasche fallen, und ich verbarg meine Tränen nicht.
„Irgend etwas passt nicht“, sagte Carmen mir dort in diesem Fleckchen Wald, und ich merkte ihrer Stimme an, dass auch sie nahe war den Tränen.
„Mit meiner Liebe zu dir scheint es nicht so weit her zu sein, wie ich gedacht hatte. Kaum bin ich einmal von dir weg, da…– Ich will dir nicht noch mehr wehtun, aber ich glaube, wir sind nicht füreinander bestimmt, vielleicht ist es uns auch nur nicht zu dieser Zeit bestimmt. Das geht nicht zusammen mit uns, nicht für länger. Vielleicht in einem nächsten Leben…“
Also sprach sie: Vielleicht in einem nächsten Leben, und ist dies nicht eine der Bemerkungen, in denen die Hoffnung aller unglücklich Verliebten und Verlassenen keimt? Nun rappelte ich mich auf und sagte, ich wolle über die Wiesen ziehen.
„Vielleicht bis zum nächsten Leben“, verabschiedete ich mich von ihr mit einem Kuss auf die Hand. Eine letzte Träne tropfte von meiner Wange auf den Waldboden, ein Zittern lang hielt sie sich auf der Spitze eines Grashalms, im ätherischen Sonnenlicht, welches durch die Blätter sickerte, schillerte sie in allen Regenbogenfarben, bevor sie den Grashalm hinabfloss und im Waldboden versank. Daraufhin ging ich davon.
Am nächsten Morgen fand Carmen mich, nahe am Waldrand liegend, meinen Kopf gebettet auf eine leere Bierflasche. Ich erwachte, als Carmen mir über den Kopf strich. Sie kniete neben mir. Schwach drang die Sonne durch den Morgennebel. Mir fröstelte. Carmen legte einen Arm um mich und lächelte mich an. Ich war gerührt und erwiderte ihr Lächeln, doch dann sah ich in ihre Augen. Ich sah, dass Carmen mich besorgt, aber vor allem mitleidig anblickte. Und selbst meinem vergifteten Gehirn ging in diesem Augenblick auf: Lass’ alle Hoffnung fahren! Die Einsicht kam schnell und brutal. Das Lächeln fiel mir aus dem Gesicht. Lass’ alle Hoffnung fahren! Ich erbrach mich auf ihren Bauch.
2.
Ich schaffte es, ihre Hilfe ausschlagend, auf die Beine zu kommen. Ich wollte meine Ruhe haben. Aber sie ging noch einige Schritte neben mir her. Wir blieben am Rand des Felsens stehen. Tief unter uns der Rhein, glitzernd in der Morgensonne. Ein Blick wie ein Postkartenmotiv. „Ist das schön hier“, sagte Carmen. Ihre letzten Worte waren: „Wir können doch Freunde bleiben!“. Aber davon wollte ich nichts hören. Wenn man schon einen Schlussstrich zieht, dann mit allen Konsequenzen. Das hatte sie jetzt davon. Ich ging meines Weges. Blickte mich nicht um. Denn was gab es für mich dort jetzt noch zu sehen? Nur eine Carmen, auf deren Kleid Teile meiner armen zerschellten Seele klebten.
Ich säuberte mich am nächstbesten Toilettenwagen und mischte mich unter die Leute. Allerdings spürte ich bald, dass ich ein wenig Hilfe dabei brauchte, Carmen hinter mir zu lassen. Ich besorgte mir ein Bier. Heißt es nicht, dass das Vergessen notwendig für die Gesundheit des Menschen sei? Gnädige Fluten der Lethe, so steht es geschrieben. Und mir waren sie an jenem Tag wahrlich gnädig. Nach etlichen Bier dachte ich nicht mehr an Carmen. Ich dachte an gar nichts mehr. Gegen Abend brach ich sogar beinahe das größere von unseren Zelten ab, jenes, welches eigentlich die Liebeshöhle für Carmen und mich hätte werden sollen. Es war aber kein Akt der Rache an den Träumen der Vergangenheit. Das Bier stellte mir ein Bein, so dass ich auf das Zelt stürzte. Eigentlich wollte ich nur hinein, um ein wenig zu schlafen. Aber daraus wurde nichts, denn Lulu schaute mit wütenden Augen und blitzenden Brüsten aus dem Eingang heraus. Als sie mich erkannte, wurde ihr Blick weicher: „Hey, alles klar mit Dir?“, fragte sie, derweil eine tiefe Stimme aus dem Dunkel des Zeltes barsch forderte: „Lass’ den Arsch und komm’ wieder her!“
Betrunken wie ich war, wankte ich davon und schlief die zweite Nacht hintereinander unter freiem Himmel.
Ich erwachte am nächsten Morgen, als die Sonne über den Horizont stieg. Dampfend löste sich die Nacht aus dem taunassen Gras der Wiesen. Meine Kleidung klebte mir feucht am Körper, aber das machte nichts. Neuer Tag, neues Glück!, sagte ich mir. Festen Schrittes ging ich zurück zu den Zelten, um meine Siebensachen zu packen und mich für die Heimfahrt zu rüsten.
Lulu war alleine und schon dabei, die Zelte abzubauen, als ich zu ihr stieß. Sie war guter Dinge. Ihre Augen glänzten beseelt im Morgenlicht. Dieser Typ mit der tiefen Stimme schien ihr Gutes getan zu haben, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Wo Carmen sei, fragte ich, und Lulu meinte, sie wüsste auch nicht, wo sie den letzten Tag und die letzte Nacht verbracht hätte, geschweige denn, wo sie jetzt sein könnte. „Carmen wird wieder irgendwie abgestürzt sein!“ meinte sie, und legte mir eine Hand tröstend auf den Arm. Sie wusste also Bescheid, dass mit Carmen Schluss war. „Mir auch egal, wo sie sich rumtreibt!“, sagte ich zu Lulu, „Für mich ist sie gestorben. Wenn sie nicht bald kommt, dann fahren wir ohne sie zurück!“ Den harschen Worte zum Trotz hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals. Was war ich glücklich gewesen mit ihr! Warum hatte es so enden müssen? Die üblichen Nachwehen, dachte ich und zündete mir schnell eine Zigarette an. Sagte mir, was sich bereits Generationen von Verlassenen in eben einer solchen Situation schon gesagt hatten: Auch andere Mütter haben schöne Töchter. Ich konzentrierte mich auf Lulus Oberweite und die lästigen Gedanken fielen von mir ab. Dass mir dies noch nicht vorher aufgefallen war. Liebe scheint wirklich blind zu machen. Aber nun weilte ich wieder unter den Sehenden. Lulu war nicht nur nett, sondern sie hatte auch sonst einiges zu bieten. Ich vertiefte mich so sehr in den Anblick von Lulus Bemühungen, das Zelt zurück in die dafür vorgesehene Tasche zu stopfen, wobei ihre Brüste kaum von dem schlichten, dünnen T-Shirt gehalten werden konnten, dass ich ganz vergaß, ihr dabei zu helfen. Ob ich nicht langsam mal mit anpacken wolle, beschwerte sie sich. Was ich dann auch tat, ohne den Blick fürs Wesentliche zu verlieren, indem ich ihr die Tasche aufhielt. Zu diesem Zweck setzte ich mich zu ihren Füßen nieder und nahm die Tasche zwischen meine Beine. Eine Haltung, die mein Gesicht unauffällig nah an das Objekt meiner Aufmerksamkeit brachte, denn Lulu stand nun gebeugt über mir und meinem ihr zugewandten Kopf. Helfen kann so angenehm sein.
Gegen Mittag hatten wir die Zelte abgebaut, den Müll weggeräumt und all unser Hab und Gut – auch Carmens Sachen, da wir diese doch nicht einfach liegen lassen konnten – zum Auto gebracht. Lulu versuchte mehrmals Carmen über ihr Handy zu erreichen, aber erfolglos.
Bis in den Nachmittag hinein blieben wir dann noch im plattgedrückten Gras, dort wo die beiden Zelte gestanden hatten, sitzen und warteten auf Carmen. Lulu beharrte darauf. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten wir uns schon lange auf dem Heimweg befunden. Aber ich machte das Beste aus der Situation und meditierte über Lulus Silhouette im Gegenlicht. Doch schließlich verschwand die Sonne hinter dunklen Wolken. Es begann zu regnen. Als beinahe die Letzten auf dem Gelände ließen wir die Loreley hinter uns und fuhren zu zweit Heim, Richtung Wuppertal.
Lulu legte meine Doors-Cassette ein, und wir hörten Break on through (the other side). Zunächst sang sie lauthals mit, schließlich aber schlief sie ein.
Da lag sie friedlich schlummernd, ganz mir und meinen Fahrkünsten vertrauend, die Beine an den Körper gezogen, wie ein Ungeborenes geborgen in Mutters Schoß. Wie ein Kind lag sie da, den Kopf sanft gebettet auf gefalteten Händen, lächelnd traumumfangen, ungebrochen unbefangen. Light my fire, sang Jim Morrison, die Live-Version, und ich spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm zwischen meinen Händen und dem Lenkrad ausbreitete. Ich hätte Lulu gern berührt.
Es waren nicht ihre kindlichen Züge, die mich anreizten. Hätte Lulu gerochen wie ein Kind, so hätte sie mich kalt gelassen, so hätte es mich nicht danach verlangt, ihren so zart und klein wirkenden Kopf in meine Hände zu nehmen und ihr über das Haar zu streichen. Aber sie roch nicht nach Kind. Da war Alkohol und Schweiß, viel Schweiß, und nicht allein der würzige, warme Duft einer Frau, sondern auch die scharfen und kalten Ausdünstungen eines Mannes. In diesem Gemenge von Gerüchen konnte ich die dunkle Männerstimme hören, wie sie rief: „Lass’ den Arsch und komm’ wieder her!“. Die Faszination der Frau als schillernd changierendes Wesen, Unschuld und Sünde, Hure und Heilige, sattsam bekanntes Phantasma, hier in leichter Variation. Inter urinas et faeces nascimur, schrieb Augustinus, und wie ich dort im Auto zu spüren bekam, sind wir nicht nur in diesem Zwischen geboren, sondern es drängt uns auch dorthin zurück. Sogar wenn zuvor schon jemand anderes dort gewesen ist. Wie nannte die Evolutionsbiologie diesen Sachverhalt doch gleich? Samenkonkurrenz?
Ich lächelte bei diesen Überlegungen. Leise, um Lulu nicht aufzuwecken, summte ich, begleitet vom prasselnden Regen auf dem Autodach, die Melodie von Riders on the storm.
3.
„Lass‘ Dich nicht unterkriegen!“, sagte Lulu, nachdem ich sie wohlbehalten vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte. „Unkraut vergeht nicht!“, entgegnete ich. Sie lächelte, gab mir einen Kuss auf die Wange und verschwand mit ihrem Zelt unterm Arm im Hausflur. Ich blickte ihr noch einen Moment nach, dann fuhr ich zügig durch den Regen nach Hause.
Die nächsten zwei Tage vergingen wie im Flug, denn ich war auf den Schwingen des Dionysos unterwegs. Der emotionale Aufschwung, den ich in Lulus Anwesenheit genossen hatte, war in einen emotionalen Sturzflug übergegangen, kaum dass ich meine leere Wohnung betreten hatte, in der das ungemachte Bett, die leeren Weingläser in der Spüle, noch von der großen kosmischen Harmonie mit Carmen kündeten. Glücklicherweise hatte ich genügend Rotwein daheim gelagert, um den Sturz 2 Promille über Bodennähe abzufangen.
Und so über dem Abgrund schwebend, tat ich, was wohl viele sensible Kerle in einer ebensolchen Situation getan haben: ich griff zum Stift und schrieb mir meinen Kummer von der Seele. Erst schreckliche AABB Frust-Gedichte, noch gefangen im „Wir waren ein so schönes Paar“-Galama. Dann melancholische, mein Schicksal umarmende ABBA-Reime, schließlich halb wütende, halb mich zu neuen Ufern aufmachende ABAB-Verse, in denen sich mein Schmerz mit Lulus Anblick im Gegenlicht und dem Gedanken „Auch andere Mütter haben schöne Töchter“ paarte. Am Ende landete ich bei Prosa. Meine in rotem Rebensaft schwimmenden Gedanken sprengten jedes Reimschema, ich floss nur so dahin, bis ich glaubte, was ich, hinwegtanzend über alles Schwere, alles lebensmüde und verzweifelt Machende, schrieb. Bis ich glaubte, alles wäre gut, ich wäre über Carmen hinweg.
Am Morgen des dritten Tages wurde ich eines Besseren belehrt. Es klingelte Sturm, und als ich nach einigen verschlafenen Minuten die Türe öffnete, stand eine völlig aufgelöste Lulu vor mir, und mit ihr zusammen tauchte Carmen wieder auf.
Schlagartig war ich hellwach. Das Ende der großen kosmischen Harmonie holte mich mit aller Gewalt ein.
„Und wir sagen auch noch, Carmen ist abgestürzt!“ Tränen und Worte rauschten wie Sturzbäche aus Lulu heraus, derweil ich mich und sie mit Kaffee und Zigaretten versorgte und versuchte, nicht selbst die Fassung zu verlieren. Das Ende vom Lied war dann, dass Lulu und ich heulend Arm in Arm in meinem Bett lagen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, heißt es ja, und wenn dies wirklich stimmt, dann möchte ich nicht wissen, wie dann das ganze Leid ausgesehen hätte.
„Abgestürzt! So ein schlechter Scherz, dachte ich!“, brachte Lulu mit tränennasser Stimme heraus, „Die Polizisten haben vielleicht komisch geschaut, als ich zu lachen anfing, bevor ich überhaupt genau kapierte, was da eigentlich abging und dann das große Heulen kam. Meine Adresse hatten sie von ihrer sauberen Mutter, hat natürlich sofort an mich gedacht, konnte mich ja noch nie leiden! Glaubte, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihr liebes Töchterchen, würde sie versauen, meinte doch glatt einmal zu Carmen: Kind, gib auf die acht, solch eine wie die küsst sogar Frauen!
Ah, wenn die jemals erfahren würde, wer wen gerne einmal geküsst hätte! Ich hätte nicht übel Lust, der das noch aufs Butterbrot zu schmieren! Hat doch sofort an mich gedacht, seh’ sie vor mir, mit spitzem Finger zeigend: Die da, die weiß’ Bescheid! Die hat da bestimmt was mit zu tun!
Ach Scheiße, wenn ich doch nur was damit zu tun gehabt hätte, dann wäre das nicht passiert, war schließlich immer da, wenn Carmen wieder mal drauf und dran war, irgendeinen Scheiß zu bauen, habe sie nie hängen lassen, da kann ihre Mutter denken, was sie will, und die Polizisten auch. Ich war es schließlich, der ihr im Irving fett die Stelle mit dem offenen Fenster angestrichen hat!
Kann das denn alles sein?! Ach Scheiße, ich musste ja unbedingt mit diesem Kerl was anfangen, statt mir ihr loszuziehen und aufzupassen, wo sie hintritt! Das kann doch einfach nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Sie hatte doch noch soviel vor! Und jetzt… Und jetzt soll sie einfach tot sein? Und warum? Und wie? Warum ist sie bloß mit betrunkenem Kopf über die Absperrung und die Felsen bis zum äußersten Rand geklettert? Und wie ist sie dann abgestürzt? Wenn ich nur dran denke, dass wir, während sie tot zwischen den Felsen lag, unsere Scherze gemacht haben!“
Lulu löste sich in meinen Armen beinahe vor lauter Schmerz, Trauer, Wut und Fassungslosigkeit auf. Ich selbst war auch ganz aufgelöst. Zwar hatte ich gewusst, dass ich früher oder später wieder von Carmen hören würde. Aber ich hatte ganz verdrängt, dass sich die Polizei bei mir melden würde. Doch jetzt stürzte die ganze profane Wahrheit auf mich ein. Man hatte uns zusammen das Training verlassen sehen. Küssend in der Kneipe. Auch dafür, dass wir zusammen auf dem Festival waren, gab es sicherlich Zeugen. Zudem würde Lulu der Polizei von mir erzählt haben. Von meiner DNA auf Carmens Kleid ganz zu schweigen.
Ganz klar, die Polizei würde kommen. Ich würde meinen ganzen Kummer noch einmal durchleben müssen. Und so schämte ich mich meiner Tränen nicht. Weinte in Lulus Arm, wie sie in meinem. Plötzlich aber ging mir auf, dass ich, da Lulu bei mir war, als es mich erwischte, vielleicht doch Glück im Unglück hatte. Und was dann folgte, als ich sie aus diesem Gedanken heraus fest an mich drückte und Lulu keine Worte mehr hatte, um ihre Gefühle auszudrücken, keine Worte mehr, nur noch Tränen, kennen Sie vielleicht, wenn schon nicht aus eigener Erfahrung, so dann aber aus Filmen. Dieser Moment, wenn der Schmerz so groß geworden ist, dass es das Herz zu zerreißen scheint, wenn aus dem Meer der Tränen ein tiefer, stummer Blick aus großen Augen auftaucht. Ja, wenn die Schreie der kummervollen Seele verstummen und die Musik einsetzt und die übervollen Herzen sich in einer solch’ leidenschaftlichen Vehemenz verströmen, dass die Kamera schamhaft ihr Auge schließt.
Ein eben solcher Moment riss Lulu – auch ohne dass Musik erklang – auf das Heftigste mit, als ich ihr die Tränen von den Wangen küsste, als ich dem Lauf der Tränen zu ihrem Hals folgte und ihre Haut mit meinem Atem trocknete. Sie stürzte sich auf mich, um dem so nahen Tod vibrierendes Leben entgegen zu setzen. Und sie war im Bett genauso, wie ich es erhofft hatte. Hemmungslos wie ihr Alkoholgenuss, wild wie ihr Lachen, üppig in ihrer Gier so ausladend wie ihre Brüste – und dass Ganze noch potenziert durch ihren Kummer und mein standhaftes Bemühen, sie zum Äußersten zu treiben.
Sie stöhnte, kratzte und schrie, sie schlug auf mich ein. Ich spürte ihre Tränen, da sie ihre Zähne in meinen Hals schlug, während ich meinen Unterleib tief in den ihren bohrte. Ihre Fingernägel gruben sich in meinen Po, nachdem sie mich auf sich gezogen und ihre Beine um meine Hüften geschlungen hatte. Sie vögelte gegen den Tod an – und ich um mein weiteres Leben. Mit jedem Kratzer, den sie mir zufügte, jedem ihrer Bisse, jedem blauen Fleck, dort, wo sie mich schlug, um mich noch anzuspornen, wuchs meine Zuversicht, und mit meiner Zuversicht wuchs meine Erregung und somit ihre Wildheit. Sie ließ all ihren Schmerz an mir aus, und ich nahm diesen Schmerz mit Lust an. Denn er war meine Fahrkarte in eine unbeschwerte Zukunft. Dies hatte ich aus der Episode mit Carmen gelernt, man sollte sich nicht durch die Geschehnisse treiben lassen, sondern seine Geschichte aktiv selbst gestalten. Und noch etwas hatte ich durch Carmen gelernt: diesen kurz angesetzten, wuchtigen Schlag auf den Hals, welcher Lulus Stöhnen, Zucken, Rucken sofort stoppte und ihren Kopf zur Seite kippen ließ. Kiay!
4.
Da lag Lulu, dieses Mal nicht friedlich schlummernd wie in meinem Auto, die Beine an den Körper gezogen, wie ein Ungeborenes geborgen in Mutters Schoß, sondern nackt in meinem Bett, mit gespreizten Beinen und verdrehtem Kopf. Es fiel mir schwer, mich von diesem Anblick zu lösen. Aber es musste sein.
Ich ging in die Küche und zog ein Messer aus dem Messerblock.
Während ich später die Nummer der Polizei wählte, musste ich an Carmens Mutter denken, an ihre Aversion Lulu gegenüber. Ich lächelte, fasste mich aber rechtzeitig wieder, um am Telefon glaubwürdig den Geschockten, gerade Angegriffenen, nur knapp dem Tode Entronnenen zu mimen.
Was war das doch für eine dramatische Geschichte von großer Liebe und verzerrender Eifersucht, die ich am nächsten Tag, nachdem ich sicherheitshalber ärztlich untersucht und psychologisch betreut worden war, zu Protokoll gab. Mir kamen doch tatsächlich die Tränen, als ich schilderte, wie Carmen während des Musikfestivals mit mir Schluss gemacht hat („Aus heiterem Himmel!“), weil sie aufgrund der schlimmen Eifersucht von Lulu Angst um sich selbst und auch um mich hatte.
Ich hätte dies, sagte ich – und stockte, musste den Ermittlungsbeamten, um ein Glas Wasser bitten, bevor ich fortfahren konnte: Also ich hätte dies weder verstehen noch akzeptieren können.
„Hab versucht, sie umzustimmen. Ließ nicht locker. Aber Carmen schüttelte nur den Kopf! Wieder und wieder schüttelte sie ihren Kopf!“
Carmen hätte unter Tränen auf dem Schlussstrich bestanden. In dem Moment, als mir klar wurde, dass ich sie nicht würde umstimmen können, wäre mir (ich erzählte es erst nach einer kurzen Pause, welche die Peinlichkeit, die ich empfand, deutlich machen sollte) schlecht geworden.
„Carmen ist meine große Liebe“ („war“ fügte ich leise hinzu), und das alles sei einfach zu viel für mich gewesen.
„Das war das letzte Mal, dass ich Carmen gesehen habe.“ erzählte ich aufrichtig mit feuchten Augen. In meinem Kummer hätte ich mich dann unter die Leute gemischt und mich betrunken.
„Am nächsten Tag bin ich dann zu unseren Zelten zurückgekehrt. Dort sagte Lulu mir, Carmen sei mit irgendeinem Typen unterwegs. Lulu wollte sofort heim. Ich wollte eigentlich noch auf Carmen warten. Aber mit Lulu war nicht zu reden. Wir brachen also die Zelte ab und fuhren nach Wuppertal zurück.“
Zwei Tage hätte ich mich in meiner Wohnung verkrochen, immer hoffend, dass Carmen sich meldet. Aber als es endlich an der Tür klingelte, war es Lulu.
„Sie hat es geschafft…“, langes betretenes Schweigen meinerseits, dann: „Sie hat es tatsächlich geschafft, meinen Kummer auszunutzen und mich zu verführen!“
Doch plötzlich, sie saß auf mir, hätte sie dieses Messer („Ich weiß nicht, woher sie das hatte“) in der Hand gehabt, es mir an den Hals gehalten und geschrien: Du hast doch nicht geglaubt, dass ich tatenlos zuseh’, wie ihr es miteinander treibt!
Sie hätte immer weiter geschrien: Aber Carmen war ja nicht zur Vernunft zu bringen. Ich liebe ihn doch! Liebe ihn doch! Liebe ihn! Pah!
„Pah! In dem Moment hat sie mit dem Messer ausgeholt – dann… Es ging alles so schnell. Das Messer. Lulu mit verzerrtem Gesicht. Plötzlich lag sie da. Ich habe einfach reagiert. Zugeschlagen. Und sie zum Glück so wirkungsvoll getroffen, dass sie ohnmächtig wurde.“
Natürlich haben die Spezialisten der Spurensicherung auf dem Küchenmesser meine Fingerabdrücke gefunden. Es war ja mein Messer. Ein robustes Kochmesser mit langer, breiter Schneide, welches tief in Lulus Bauch steckte, als die Polizei in meiner Wohnung eintraf. Aber sie fanden auch Lulus Abdrücke auf dem Messerschaft. Und sie hatten die Aussage von Carmens Mutter. Sie fanden einige wohl ausgewählte Seiten meiner traurigen Prosa in meinem Papierkorb. Sie fanden meine Geschichte sehr überzeugend. Niemand zweifelte an meinen Worten. Bezweifelte, dass ich unter Schock die Nummer der Polizei gewählt hatte, ohne daran zu denken, das Messer aus Lulus Reichweite zu entfernen.
„Ich legte auf, und da spürte ich, dass sie mich ansah. Ich war wie gelähmt. Erst als ich sie lachen hörte, schaffte ich es, den Kopf zu drehen und sie anzusehen. Das war mein großes Glück, denn schon stürzte sie sich, das Messer wieder in der Hand, mit einem wilden Schrei auf mich.“
Einige Schnittwunden, an meinem Hals, an meinem Handgelenk, auf meiner Handfläche („Typische Abwehrverletzungen“, hieß es) waren fotografiert und für die Akten dokumentiert worden, bevor der Arzt sie versorgte. Meine Geschichte, ich hätte es geschafft, Lulus Hand mit dem Messer zu packen, aber es nicht geschafft, ihr das Messer zu entwinden, war somit gut mit Fakten unterfüttert.
„Sie war außer sich!“, erzählte ich. „Ließ das Messer einfach nicht los, und plötzlich, mitten im Kampf, da steckte das Messer tief in ihrem Bauch. Ich hatte das nicht gewollt!“
Nein, ich hatte all das nicht gewollt.
„Ich wollte doch nur glücklich sein!“ flüsterte ich und sah aus dem Fenster. Es regnete. Ich hörte das Rumpeln der Schwebebahn, die sich unweit vom Polizeipräsidium in eine Kurve legte, um dem Verlauf der Wupper zu folgen.
„Nur glücklich sein!“ sagte ich leise, gerade so als wenn ich nur mit mir selbst spräche. Plötzlich brach die Sonne durch die Wolken. Wenige Augenblicke später spannte sich ein Regenbogen über das Tal. Dieser Moment war fast zu schön, um wahr zu sein. Beinahe hätte ich gelächelt. Beinahe.
Ende
Diese Love & Crime Story stammt aus meiner Kurzgeschichten-Sammlung “Plötzlich brach die Sonne”. In etwas anderer Form findet sich der erste Teil der Story auch in meinem Roman “Abschied ist ein scharfes Schwert”, wobei es mich schon lange reizte, der Geschichte ein anderes, das zwischen den Zeilen schimmernde Ende zu verpassen.
Die vier Geschichten des eBooks „Plötzlich brach die Sonne“ loten das Thema “Liebe” auf je andere Weise aus:
- Mit musikalischer Melancholie („Take The Long Way Home“).
- Mit Augenzwinkern im Angesicht der Apokalypse („Der Bierdeckel und das Warten“).
- Knallig, lustvoll, kriminalistisch („Plötzlich brach die Sonne“).
- Mit schmerzhaftem Realismus („Töte den Drachen“).
Noch ist das eBook in dieser Form bei Amazon für 99 Cents erhältlich. Eine weitere Liebes-Geschichte, an derzeit schreibe, lässt mich über eine Revision des eBooks nachdenken.