EINE HEISS UMWORBENE FRAU

Von Hillebel

Der Jungunternehmer und Frauenliebling Sven Dreves ist sich seines Erfolgs sicher, als er eine Schönheit am Strand von Nizza anspricht. Wider Erwarten lässt sie ihn abblitzen …

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Sven Dreves schlenderte, mit einem Badeshort bekleidet und das Handtuch lässig über die Schulter geworfen, über den Strand von Nizza. Er genoss die Sonne, das unglaubliche Blau des Mittelmeers und vor allem, dass es im Technologiepark von Nizza bald eine Tochtergesellschaft seines auf Mikroelektronik spezialisierten Unternehmens geben würde. Die Verhandlungen mit seinem französischen Geschäftspartner hatten rascher als vermutet beendet werden können, worauf Sven beschlossen hatte, sich ein paar Tage Urlaub zu gönnen. Den ersten richtigen Urlaub, seit er sich vor vier Jahren selbstständig gemacht hatte, wurde ihm dabei klar. Das berühmte Negresco konnte er sich natürlich noch nicht leisten, aber das würde vielleicht auch noch kommen. Er grinste auf die jungenhafte Art, die ihm bis jetzt noch jedes Frauenherz hatte zufliegen lassen. Apropos Frauenherz: Allein den Erfolg zu feiern, machte wenig Spass, aber wo war die Schönheit, die ihn mit ihm teilen wollte?

Im selben Augenblick entdeckte er sie. Sie hatte einen Traumkörper mit schmaler Taille und endlos langen Beinen, üppiges dunkles Haar, ein Gesicht mit milchig zarter Haut, einer eigenwilligen Nase und einem weichen Mund. Das Wunderwesen lag keine zehn Meter von ihm auf einem Badetuch, las in einem Buch und war unbegleitet, so sah es jedenfalls aus.

Seine Beine trugen ihn ganz allein zu ihr. Einen kurzen Moment stand er bewundernd da, dann fragte er die himmlische Erscheinung auf Französisch, ob er ihr ein wenig Gesellschaft leisten dürfte. Für ihn eine simple Formalität. Welche Frau widerstand ihm schon?

Er wurde eines besseren belehrt. Langsam setzte die “Schöne”, wie er sie schon bei sich nannte, auf, musterte ihn aus jadegrünen, dichtbewimperten Augen und liess ihn mit einer unglaublich warmen und dennoch unbeugsamen Stimme wissen, dass sie die Gesellschaft ihres Buches der seinen vorzöge.

Drei männliche Augenpaare grinsten Sven aus einigen Metern Abstand schadenfroh an. Abgeblitzt wie er, folgerte er messerscharf. Sein Stolz hielt ihn davon ab, ihren Kreis zu vergrössern, und er setzte nach einer untadeligen Verbeugung seinen Weg fort. Wobei er nicht merkte, dass die “Schöne” ihm nachdenklich hinterher sah.

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Natalie seufzte. Sie hatte es satt, dass die Männer sich wie pubertierende Idioten benahmen, sobald sie in ihre Nähe kamen. Gut, von den meisten Männern konnte man nicht mehr verlangen, sie waren und blieben ungehobelte Burschen. Wie diese drei da, die nur darauf warteten, dass sie zum Schwimmen ans Meer ging, um ihr mit lüsternden Blicken nachzustarren. Der Letzte hatte mehr Format bewiesen. Immerhin. Wahrscheinlich sollte sie nicht allein an den Strand kommen, aber sie sah nicht ein, warum sie eingesperrt leben sollte, nur, weil einige Dummköpfe bei ihrem Anblick ausrasteten.

Auch Sven konnte die “Schöne” nicht vergessen. Jeden Nachmittag kam er an den Strand und wählte seinen Platz weit genug von ihr, damit sie sich nicht belästigt fühlte, aber nah genug, um über sie wachen und einschreiten zu können, wenn ein Rüpel ihr zu nahe treten sollte. Bald stellte er jedoch fest, dass das nie der Fall war. Sie verstand es, sich Respekt zu verschaffen.

Vier Tage später wusste er einiges mehr über die “Schöne”. Sie kam immer zur gleichen Zeit und blieb etwa zwei Stunden. Sie las anspruchsvolle psychologische Fachliteratur, und zwar auf Deutsch. Ihr Lächeln verwandelte die Welt in ein Paradies, und sie hatte einen kleinen Leberfleck unter dem linken Schulterblatt, den er schon tausendmal in Gedanken geküsst hatte. Ausserdem schwamm sie wie eine Nixe, und er hatte zahlreiche Herztode erlitten, wenn ihr schönes Gesicht in einem Wellental verschwand, um eine angstvolle Ewigkeit später an einer völlig unerwarteten Stelle wieder aufzutauchen.

Dass sie psychologische Fachliteratur las, hatte er entdeckt, als sie am zweiten Tag ihrer “Bekanntschaft” wieder einmal weit hinausgeschwommen war. Er hatte die Gelegenheit genutzt, um sich den Titel des Buches, den Autor, Friedrich Cornelius, und den deutschen Verlag zu notieren. Und hatte es sofort in der nächsten Buchhandlung bestellt. Gestern hatte er das Buch erhalten und den ganzen Abend und die halbe Nacht darin gelesen. Je weiter er kam, desto mehr Respekt bekam er nicht nur vor der Psychologie, die er bis jetzt als Humbug abgetan hatte, sondern auch der “Schönen”, die sich damit beschäftigte.

Auch jetzt am Strand las er in dem fesselnden Buch. Bis er die Augen hob und entdeckte, dass die “Schöne” sich gerade eine Zigarette in den Mund steckte. Nanu, seit wann rauchte sie?

Das Folgende geschah blitzschnell: Zwei Männer in ihrer Nähe sprangen auf, um mit ihrem Feuerzeug zu ihr zu eilen, aber Svens schnelleres Schaltvermögen und seine ausgezeichnete körperliche Kondition erlaubten es ihm, vor ihnen bei ihr zu sein. Er liess sich neben sie in den Sand fallen und stöhnte: “Ich habe kein Feuer!”

Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und lachte hell auf. Zwei Flammen wurden ihr hingehalten, aber sie sagte liebenswürdig: “Vielen Dank, meine Herren, aber ich habe es mir anders überlegt.”

Dann lächelte sie Sven an und sagte: “Ich heisse Natalie.”

Er fühlte sich gerade zu idiotisch glücklich. “Ich bin Sven Dreves, und ich liebe Sie!”

Das hatte er noch zu keiner Frau gesagt, es war ihm herausgerutscht, aber er merkte, dass er es völlig ernst meinte. Er merkte auch, dass sie beide Deutsch gesprochen hatten. Er zeigte auf ihr Buch: “Ich lese es gerade ebenfalls und würde gern mit Ihnen darüber sprechen. Darf ich Sie zu diesem Zweck heute Abend ins Negresco einladen?” Es würde ihn ruinieren, aber zum Teufel mit dem Geld, sie war es wert!

Wieder verwandelte ihr Lächeln die Welt in ein Paradies: “Sind Sie motorisiert?”

Er nickte.

“Gut, ich esse gern mit Ihnen zu Abend, wenn Sie mich in einer halben Stunde nach Hause fahren, damit ich mich umziehen kann.”

“Mit dem grössten Vergnügen!”

In genau dreissig Minuten war er zurück. Er hatte im Hotel geduscht, sich rasiert und einen hellen Sommeranzug angezogen. Natalie schlüpfte in ihr grosses T-Shirt, und zusammen gingen sie zu seinem Wagen. Er hätte sie bis ans Ende der Welt eskortiert.

Zwanzig Minuten später hielten sie vor einem Tor, das lautlos auseinanderglitt. Ein wunderschönes Landhaus, umgeben von einem südländischen Garten, kam zum Vorschein. Langsam fuhr Sven die Auffahrt hinauf. Als sie ausstiegen, kam ihnen ein hochgewachsener, aussergewöhnlich gut aussehender Mann entgegen. Natalie flog ihm um den Hals und gab ihm einen liebevollen Kuss.

Sven stand da wie vom Donner gerührt, während eine nie gekannte Eifersucht in ihm aufwallte. Wieso war ihm nicht früher der Gedanke gekommen, dass die “Schöne” bestimmt nicht allein durchs Leben ging? Das Schlimme war, dass der grauhaarige Gentleman ihm nicht unsympathisch war. Schwer, einem solchen Mann auf die Nase zu boxen.

Diese und andere Gedanken stürmten auf ihn ein, als er Natalies Hand auf seinem Arm spürte: “Sven, ich möchte Sie meinem Vater Friedrich Cornelius vorstellen. Papa, das ist Sven Dreves.”

“Sie … Sie sind Professor Dr. Friedrich Cornelius, der Autor des Buches über die psychologische Struktur des Kindes?” Ungläubig starrte Sven ihn an.

Der alte Herr nickte lächelnd und wies auf Natalie: “Das nächste Buch ist gerade in Arbeit, ich bin sehr stolz auf meine Co-Autorin Dr. Natalie Damberg. Es ist unsere erste Zusammenarbeit.”

Gerade hatte Sven erleichtert aufgeatmet, jetzt stürzte er ein zweites Mal in ein tiefes Loch der Verzweiflung. Sie war also doch verheiratet. Aber wo, um Himmels Willen, war dieser Herr Damberg? Unwillkürlich ballte er die Fäuste.

Natalie hatte ihn halb nachsichtig, halb amüsiert beobachtet und zog nun freundlich den neuen Stachel aus seinem Herzen: “Damberg ist der Mädchenname meiner Grossmutter, ich habe ihn angenommen, um mich von meinem allmächtigen Vater zu distanzieren, oder es zumindest zu versuchen.”

“Dann … dann sind Sie also nicht verheiratet?”

“Hätte ich sonst Ihre Einladung ins Negresco angenommen?” konterte Natalie empört. Sie sah herrlich aus, wenn sie wütend war.

Sven errötete, was ihm noch nie passiert war, und verbeugte sich ernst: “Verzeihen Sie.”

Besänftigt meinte sie: “Wir werden heute Abend natürlich über das Buch meines Vaters sprechen, wenn Sie nicht ihn persönlich als Gesprächspartner vorziehen, aber ich hoffe, auch mehr über Sie zu erfahren.”

Ihr Vater grinste leicht: “Da kann ich schon mal aushelfen: Sven Dreves wird zusammen mit Oliver Giraud hier in Nizza eine Tochtergesellschaft seines Unternehmens eröffnen, stimmt’s?”

Als ihn gleichwohl Natalie als auch Sven mit offenem Mund ansahen, lachte er: “Keine Bange, ich bin kein Hellseher, aber ich habe schon viel über Sie gehört, Sven. Ich darf Sie doch Sven nennen? Ich kenne Ihren Partner. Oliver Giraud ist der Sohn eines sehr guten Freundes. Ist die Welt nicht klein?”

“Na, dann habt ihr ja genügend Gesprächsstoff, wenn ich euch jetzt einen Augenblick allein lasse!” Natalie warf ihnen eine Kusshand zu und verschwand leichtfüssig im Haus.

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“Scotch?” fragte Friedrich Cornelius.

“Gern”, nickte Sven.

Als sie mit ihren Gläsern auf der Terrasse sassen, sagte Sven: “Ich schätze Oliver Giraud sehr.”

“Er Sie ebenfalls, er freut sich schon auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.” Er trank einen Schluck und meinte ernst: “Natalie ist eine wunderbare Frau, und das sage ich nicht nur, weil sie meine Tochter ist. Sie gleicht ihrer Mutter, die die grosse Liebe meines Lebens war und ist, und die sich im Augenblick in New York aufhält, wo eine Ausstellung ihrer neusten Skulpturen stattfindet. Aber wir Männer müssen auch ein wenig zusammenhalten, glauben Sie mir. Diese beiden Frauen wissen nämlich zu gut, was sie wollen!”

Vierzig Minuten später wandten sich ihre Blicke Natalie zu, die aus dem Haus kam. Sie trug ein Kleid in subtilen Orangetönen, das ihre Schönheit vollendet zur Geltung brachte. Mit der einen Hand hielt sie ihre üppige Haarpracht zurück, in der anderen schwenkte sie ein goldenes Abendtäschchen.

“Wie gefalle ich euch?” Aber sie sah nur Sven dabei an, der schon aufgesprungen war und wie magisch angezogen auf sie zuging: “Du bist schön und klug wie eine Göttin!”

“Von wegen Zusammenhalten”, murmelte Friedrich und sah wohlwollend zu, wie sein zukünftiger Schwiegersohn seine hinreissende Tochter in die Arme nahm und die beiden sich selbstvergessen küssten. Er würde gleich nachher mit seiner eigenen Göttin telefonieren, um ihr brühwarm zu berichten …

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Während sie wieder auf Nizza zufuhren, das im Halbrund um die Baie des Anges hingestreckt lag, fragte Sven möglichst leichthin: “Du hast Verehrer wie Sand am Meer, warum hast du ausgerechnet mich ausgewählt? Zumal du mich kaum kennst?”

Sollte sie ihm gestehen, dass sie genau so gute Augen hatte wie er? Dass sie ihn gleich am nächsten Tag auf seinem Platz entdeckt und ihn genau so eingehend beobachtet hatte wie er sie? Sollte sie ihm auch sagen, dass ihr Wagen in Strandnähe in einem Parkhaus stand und sie sehr gut allein nach Hause hätte fahren können?

Alles zu seiner Zeit, beschloss sie und küsste ihn statt dessen zärtlich auf die Wange.

ENDE