Auch wenn wir Mai und nicht November haben, passt die Lektüre außerdem perfekt zum Wetter: Es regnet, und der starke Wind hat die letzten Blätter von der Esche geweht. Der November ist nicht mehr eisig und windstill … Die Kühe stehen schon seit zwei Tagen im Stall. Beim Melken herrscht Unruhe (S. 11).
Hier also lebt Helmer van Wonderen, ein etwa 50jähriger Mann mit seinem uralten Vater, welcher einfach nicht sterben kann, auch wenn er das vielleicht gern würde. Denn er ist all dessen so überdrüssig: essen, trinken, waschen, schlafen, wieder aufwachen, … Helmer hat das ebenfalls so satt, dass sein Vater einfach nicht stirbt. Er schafft ihn auf den Dachboden, in ein karg eingerichtetes Zimmer. Und beginnt endlich, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, an welchem Bakker mich wie eine stille Beobachterin teilhaben lässt. Wenn Helmer geht, um die Kühe zu melken, die Esel zu füttern oder sich ein neues Bett zu kaufen. Wenn er die Wohnung malert, wenn er duscht. Wenn er nach vielen Jahren mal wieder in einen Tabakladen geht, um sich anschließend genussvoll eine Zigarette zu drehen.
Das mag jetzt eintönig und banal klingen. Ist es aber nicht. Denn Bakker lässt mich auch teilhaben an Helmers Gedanken und Erinnerungen –
So gab es einen Zwillingsbruder, den der Vater sehr mochte. Henk. Seit dessen Tod durch einen Autounfall hat sich für Helmer das Gefühl verstärkt, der falsche Sohn zu sein. Er und nicht Henk hätte gehen sollen. Von einem zum nächsten Tag wird er vom Vater gezwungen, sein Studium abzubrechen und auf dem Hof zu helfen.
Verursacht wurde der Unfall damals von Henks Freundin Riet. Als diese sich ca. 20 Jahre später per Brief bei Helmer meldet, weil sie seine Hilfe bräuchte, ist seine Neugier geweckt. Im späteren Verlauf der Geschichte wird Riets Teenagersohn Henk als eine Art Knecht auf dem Hof helfen. Und so werden auch Erinnerungen an den Knecht Jaap wach, welchen der Vater vor vielen Jahren vom Hof gejagt hatte. Hat Helmer diesen Jaap nicht nur bewundert, sondern sogar insgeheim geliebt? Eine Frage, deren Antwort ich erst am Ende der Geschichte finde. Nachdem ich viele Male tief in Helmers Seele und mit seinem Blick über dieses flache stille Land geschaut habe:
Ich liebe die Februarsonne … Kahle Äste im schrägen Sonnenlicht sind schön, graue Schafsrücken im schrägen Sonnenlicht sind schön. Die Nebelkrähe sitzt auf ihrem Ast in der Esche und sieht sich munterer als gewöhnlich um, und es kommen mehr Radler vorbei, als gewöhnlich (S. 193).
Einmal kommen auch zwei Jungs in einem Kanu vorbei und betrachten Helmer, sein Haus und seine zwei Esel. Helmer hört ihre Stimmen. Es beschäftigt ihn lange, was die Jungs gesagt haben, dass all dies so altmodisch aussehen würde. Wie von 1967. Aber, ja! Es wirkt altmodisch, wie Helmer lebt. Aber es wirkt auch beruhigend und entspannend. Wie in der Zeit stehen geblieben. Eine wundervolle Geschichte von Einsamkeit und Stille und Liebe. Und auch davon, dass das Leben einfach großartig sein kann … mit dem richtigen Menschen an deiner Seite.
Gerbrand Bakker. Oben ist es still. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2010. 9. Auflage. 316 Seiten. 9,99 € / auch in der Suhrkamp Taschenbibliothek. Berlin Mai 2017. Gebunden. 12,- €