Erzählung von Peter Hacks
Die ganze Sache begann damit, dass Henriette, die sich eines Nachmittags am Ufer der Schwarze erging, auf einen alten Hut trat, der da im Wegstaub lag.
"Hol mich dieser und jener", sagte der Hut; "anstatt auf mir herumzutrampeln wie ein Rindvieh, könntest du mir lieber sagen, ob du nicht meinen Herrn gesehen hast".
"Weiß nicht", antwortete Henriette. "Woran erkennt man ihn?"
"Daran, dass er mich nicht aufhat", sagte der Hut. Henriette betrachtete den Hut genau. Er war ein sehr verwitterter, sehr schmutziger Männerhut und hatte zwei Löcher, oder vielleicht auch ein Loch, das eben hinein und hinaus ging.
"Genaugenommen", sagte Henriette, "habe ich überhaupt nur Leute gesehen, die dich nicht aufhatten, was schließlich ganz natürlich ist, da du ja hier liegst".
"Recht klug dumm dahergeredet", sagte der Hut; "nur mein Herr sieht so aus, dass man merkt, dass ich auf ihm fehle. Er hat mich verloren, und seit zwei Tagen such ich ihn".
"Suchen ist gut", sagte Henriette; "du liegst doch bloß rum".
"Such du mal anders", sagte der Hut, "wenn du, hol mich dieser und jener, keine Beine hast, um dich fortzubewegen".
"Da kann ich dir helfen", sagte Henriette. Sie nahm den Hut und schmiss ihn einfach in den Fluss. "Zieh los", sagte sie, "sieh dich um".
Der Hut trieb auf den sanften Wellen langsam stromabwärts. Gerade, als er ihren Augen entschwunden war, kam ein sehr alter Mann des Wegs, von dem sie, ohne zu wissen weshalb, gleich den Eindruck hatte, dass ihm eben dieser Hut fehle.
"Hol mich dieser und jener", sagte der alte Mann, "hast du nicht meinen Hut gesehen?"
"Was wollen Sie schon mit dem?" sagte Henriette leichthin, "der hat ja ein Loch".
"Eben", sagte der alte Mann. "Das Loch haben mir die verdammten Verbrecher reingeschossen; denn ich besitze diesen Hut seit vierzig Jahren, und er ist mir das liebste auf Erden". Dann unterbrach er sich und sagte: "Woher weißt du, dass er ein Loch hat?"
"Ich habe ihn gesehen", sagte Henriette verlegen.
"Hol mich dieser und jener", sagte der alte Mann mit glücklichem Gesicht; "wo denn?"
"Er schwamm im Fluss vorbei", sagte Henriette; "ich glaube nicht, dass Sie ihn noch einholen".
"So?" sagte der alten Mann bekümmert. "Ja, dann ist er wohl weg". Und mehr für sich setzte er hinzu: "Dann bin ich nun wohl ganz allein".
Henriette war es gar nicht behaglich zumute. Der alte Mann sah so niedergeschlagen aus. Und weil sie ja selbst an dem Unglück ihr Teil Schuld hatte, drehte sie nervös an der Perlenkette, die sie besaß und immer trug. Da trat eine weibliche Person hinter einem Gebüsch am Flussrand hervor, hinter dem, wie Henriette genau wusste, eben noch niemand gewesen war. Sie hatte braune, kurze Locken und sagte zu Henriette: "Kennst du mich nicht mehr?" Henriette bemerkte, dass vom Saum ihres ganz trockenen Kleides unaufhörend Wasser zur Erde tropfte, so dass sie schon in einer richtigen Pfütze stand.
"Natürlich", sagte Henriette, "Sie sind die Nixe".
"So ist es", sagte Gisellis; "was kann ich für dich tun?"
"Ach", bat Henriette, "könnten Sie nicht den Hut von meinem Freund aus dem Fluss holen; er ist hier herunter geschwommen".
"Schwerlich", sagte Gisellis. "Bei jener Weide endet mein Revier und beginnt das des Herrn Nöckl, und da ich unglücklicherweise mit ihm verheiratet bin, möchte ich nichts mit ihm zu tun haben". Sie überlegte eine Weile.
"Die einzige Lösung", fuhr sie fort, "wäre, den Fluss rückwärts laufen zu lassen. Dann würde der Hut ja wieder hier vorbeikommen".
"Geht denn das?" rief Henriette aufgeregt. "Das ist eine Kleinigkeit", sagte die Nixe. "Man muss bloß machen, dass der Regen von der Erde zum Himmel steigt, dass die Bäche bergan fließen, dass das Wasser vom Fluss in die Bäche läuft und vom Meer in den Fluss; wie gesagt, eine ganze Kleinigkeit. Aber es geschähe natürlich auf deinen Wunsch. Und wenn ich dir diesen Wunsch erfülle, musst du mir deine Perlenkette geben, mit der du mich ja gerufen hast".
"Was?" sagte Henriette entsetzt, "meine Perlenkette für einen alten Hut?" Die Nixe zuckte mit den Achseln. "So sind die Bedingungen", sagte sie. Henriette blickte zu Boden. Dann blickte sie auf den alten Mann, der still dastand und vor Hoffnungslosigkeit ganz klein geworden war. Dann band sie langsam die Kette vom Hals und gab sie der Nixe. Die Nixe nahm die Kette und spazierte langsam in den Fluss hinein, in dem sie, als sie bis zu einer tieferen Stelle gekommen war, vollständig verschwand.
An derselben Stelle bildete sich bald darauf ein Strudel und wurde mächtiger und dehnte sich bis zu den Ufern aus. Alle Wasser des Flusses kreisten in einer wirbelnden Bahn. Als sie sich aber endlich beruhigt hatten, entdeckten Henriette und der alte Mann, dass der Fluss rückwärts floss. Es dauerte gar nicht lange, da trieb schon der Hut, hinter der Weide vorbei, auf sie zu. "Hol mich dieser und jener", schrie der alte Mann, "da bist du ja, du verkommener Ausreißer".
"Hol mich dieser und jener", schimpfte der Hut zurück, "krieg mich mal gefälligst hier raus".
"Schrei dir keine Schwielen in den Hals", schrie der alte Mann. Er stieg ins Wasser und angelte heftig mit seinem Stock.
"Passen Sie auf", warnte Henriette; "Sie machen sich ja die Hosen nass".
"Was die redet", sagte der alte Mann zu seinem Hut, den er jetzt fest gegen die Brust gepresst hielt. "Die war ja noch gar nicht auf der Welt, wie wir schon zusammen die verdammten Verbrecher verprügelt haben".
Ein Geschichte mit Henriette
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