Eine Genrekritik mit: Friedrich Ani – Der einsame Engel (Droemer, 2016)

Vor der Produktivität Friedrich Anis kann man eigentlich nur den Hut ziehen: neben 5 Lyrikbänden, 7 Jugendromanen, etlichen Drehbüchern und diversen Krimis mit unterschiedlichen Ermittlern hat der deutsche Autor seit 1998 nicht weniger als 20 Kriminalromane mit dem Ermittler Tabor Süden veröffentlicht. Das sind beinahe Simenon’sche Ausmasse.  Es stellt sich die Frage: Leidet unter dieser Quantität die Qualität?  Und in der Tat: die Lektüre des neusten Tabor-Süden-Romans “Der einsame Engel” gibt Anlass zu einer Genrekritik.
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Er ist etwas über fünfzig, Einzelgänger, Getriebener, trinkt zu viel, wird die Gedanken an seinen verstorbenen Ex-Partner bei der Kripo nicht los, ist eigensinnig, manchmal unzuverlässig, hat hin und wieder eine Affäre und stellt immer die richtigen Fragen. Dieses Kurzprofil charakterisiert bei weitem nicht nur Tabor Süden, sondern eine grosse Anzahl von Detektiven, Ermittlern, Kommissaren aus einschlägigen Krimireihen, sei es nun in Buch-, Film- oder Fernsehform. Zielgruppenorientiertes Schreiben, könnte man sagen. Oder kritischer: Klischees bedienen.

Tabor Süden, der als Ich-Erzähler des Romans auftritt, ist glaubhaft in seiner Rolle: das liegt an Anis zurückhaltender Sprache, an seinen lebhaften Dialogen, an der derben Ehrlichkeit der Gefühle. Aber: diese Dialoge, diese Gefühle sind letztlich nichts als ein aus Stereotypen massgeschneidertes Konstrukt für den Krimimarkt. Von einer Figur, die bereits zwanzig Romane auf dem Buckel hat, wünschte ich mir mehr Tiefe und komplexere Beziehungskonstellationen.

Dafür aber scheint das Format nicht gemacht, schliesslich muss auf den knapp 200 Seiten des Romans noch ein Fall gelöst werden (Auch dies scheint ein unabdingbares Element des Krimis zu sein – gibt es Alternativen?). Der Fall, den Friedrich Ani – ein Autor, der sich ausschliesslich Vermissten und Verschwundenen widmet – in “Der einsame Engel” aufrollt, ist klug konstruiert, nimmt überraschende Wendungen und führt in ein waghalsiges moralisches Dilemma, mit dem der Leser zum Schluss allein gelassen wird. So weit, so gut. Doch es bleibt auch hier ein bitterer Nachgeschmack: die überhastete, wie in vielen Krimis auf sehr wenigen Seiten dargebotene Auflösung des Falls und das anschliessende James-Bond-artige Entfliehen der Hauptfigur in eine hoffnungsvolle Schlussszene (natürlich mit einer Frau an seiner Seite), die für den Beginn eines neuen Lebens stehen könnte (dies aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht tut) – das sind wiederum Stereotypen, die sich mit Leichtigkeit umschiffen liessen.

Er habe gelernt, “jedem Menschen jede Verwerfung zuzutrauen, weit über dessen Selbsteinschätzung hinaus” (162), sagt Süden einmal. Solche Einsichten philosophischer Art, die vom Tagesgeschehen des Kriminalfalls hinauf führen in den Diskursraum des Moralischen, Ethischen, Menschlichen, bleiben leider eine Seltenheit. Gerade weil die Sprache des Autors mit ihrem Hang zum Derben, zum von keiner Theorie Verklärten, zum Gossenpoetischen von einer sehr hohen Qualität ist, wäre es wünschenswert, ihr und den von ihr gezeichneten Figuren mehr Raum zum Atmen und Entwickeln zu geben.

Die Simplizität eines Kriminalfalls – ein Mensch verschwindet und niemand scheint zu wissen, wo er ist – ist noch lange kein Grund, auch die Erzählung des Falls so simpel wie möglich zu gestalten. Aus den einfachsten Dingen – und das ist in beinahe allen grossen Werken der Literatur der Fall – lassen sich bisweilen die fantastischsten Gedanken extrahieren.

Es ist an der Zeit, dass das Genre des Kriminalromans sich seiner privilegierten Position bewusst wird und (wieder) anfängt, Weltliteratur zu produzieren.

Ani, Friedrich. Der einsame Engel. Ein Tabor Süden Roman. München: Droemer. 208S., gebunden m. Schutzumschlag 978-3-426-28147-5


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