" Eine Frau bei 1000° " von Hallgrimur Helgason

Von Sternthaler75
400 Seiten
ISBN 9783608501124
Klett-Cotta-Verlag
Preis: 19,95€
gebundene Ausgabe
Was ist nur schief gelaufen, wenn eine alte Frau mit 80 Jahren in Island in ihrem Krankenbett in einer Garage wohnt? Ich denke mal, einiges. Herbjörg Maria Björnsson ist soweit: Sie will endlich sterben. Schluss - Aus - Ende. Doch vorher erfahren wir ihre Lebensgeschichte. Und die hat es in sich, denn Herbjörg hat einiges erlebt und zudem mittlerweile Haare auf den Zähnen. Das war jedoch nicht immer so.
Als Kind hat sie den 2. Weltkrieg ziemlich nah mitbekommen. Ihr einziges Andenken aus dieser Zeit ist eine Handgranate, die ihr Vater ihr gab für den Fall, dass sie einmal in Not gerät. Bis heute hat sie dieses Ding immer bei sich. Tag und Nacht. Überall. Und jetzt auch im Bett. Sie nennt es liebevoll ihr Hitlerei.
Um den Kontakt zur Welt zu haben, beschäftigt sie sich viel mit ihrem Laptop, ist sogar bei Facebook, allerdings mit mehreren Profilen und auch nicht immer ganz ehrlich.
Drei Söhne hat sie, aber keiner der Herren hält es mal für nötig, sie zu besuchen, oder sich wenigstens nach ihr zu erkundigen.
Ach ja, den Termin für ihre Verbrennung hat sie auch schon klar gemacht, aber schön heiß bitte.
»Ich lebe hier allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Es ist wahnsinnig gemütlich.«
»Ich möchte einen Termin für eine Einäscherung buchen.«
»Einen Termin buchen?«
»Genau.«
»Aha. Ja ... wie war noch mal der Name?«
»Herbjörg Maria Björnsson.«
»Hallo? Ich kann den Namen in der Liste nicht finden. Haben Sie den Antrag auf Einäscherung schon eingereicht?«
»Nein, nein. Ich möchte einen Termin für mich buchen. Für mich selbst.«
»Naja, wir bearbeiten ihn nicht, bevor ... na, Sie wissen schon ... also bevor, äh ..., bevor die Leute tot sind, okay?«
»Gut. Wenn es so weit ist, werde ich tot sein. Darauf können Sie sich verlassen. Also, wenn’s eng wird, komme ich einfach vorbei, und ihr schiebt mich lebend in den Ofen.«

Meine Meinung
Ich hatte mich schon sehr auf das Buch gefreut, weil es nicht das erste des Autors ist, das ich gelesen habe. Und auch hier habe ich seinen Schreibstil sehr genossen. Mit teilweise ziemlich losem Mundwerk nimmt die Protagonistin Herbjörg Maria den Leser mit durch ihr sehr bewegtes Leben, gespickt mit jeder Menge Steine im Weg. Es gab viele Haltestellen in ihrem Leben und von jeder erfahren wir etwas.
Leider erfährt der Leser von einem Ereignis meines Erachtens ein wenig zu viel: Vom 2. Weltkrieg. Der wird förmlich von Anfang bis Ende begleitet, leider. Denn ich hätte lieber mehr aus Herbjörgs Jetzt-Zeit erfahren. Natürlich ist es ein ebenso wichtiger Abschnitt in ihrem Leben wie auch zum Beispiel ihre Erfahrungen mit ihren Ehemännern, immerhin hatte sie 4 davon. Allerdings war der letzte sicherlich nicht der Beste. Gesoffen, geschlagen und vergewaltigt, das ist nicht das, was "Frau" sich von der Ehe wünscht.
Viele Erinnerungen werden festgehalten in diesem biographischen Werk, bis sie endlich ihr Ziel zu sterben erreicht. Familie, Krieg, Wirtschaftskrise, hier kommt nichts und niemand zu kurz.
Hallgrimur Helgason zeigt hier das Leben einer Frau auf, die einerseits hart und direkt durch ihr Leben gegangen ist, andererseits aber auch sehr sensibel und mitfühlend dargestellt wird. Sie ist in meinen Augen ein wenig wie ihre Handgranate: Harte Schale, weicher Kern, wobei ich keine Ahnung habe, ob eine Handgranate innen weich ist . . .
Insgesamt sehr detailreich, herrlich schrullig, aber auch sehr sensibel, so würde ich es kurz beschreiben.
Unterm Strich
Zu viel Krieg, wenn es nach mir ginge, aber trotzdem lesenswert, wenn man es ironisch und direkt mag. Dafür vergebe ich 4 Sternthaler.

Der Autor
Hallgrímur Helgason, 1959 in Reykjavík geboren, nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík, besuchte er ein Jahr die Kunstakademie in München. Seit 1982 arbeitet er als Autor und bildender Künstler in seiner Heimatstadt. Sein erster Roman erschien 1990. Den internationalen Durchbruch brachte ihm 1996 »101 Reykjavík«, der kurze Zeit später auch verfilmt wurde, wie zuletzt auch sein Roman »Rokland«.
Ich bedanke mich herzlich bei vorablesen und den Klett-Cotta-Verlag Tropen für dieses Rezensionexemplar