Eine Frage der Verantwortung

Während in manchen Ländern der westlichen Welt Massengräber in Parks ausgehoben oder Einkaufszentren in Leichenhallen umfunktioniert werden, ist die Situation in Deutschland deutlich weniger problematisch. Soziale Distanzierung, maßvolle und rechtzeitige Krisenpolitik und pures Glück haben alle ihr Scherflein dazu beigetragen, dass der Verlauf von Corona hierzulande relativ glimpflich ablief. Derart glimpflich, dass wir mittlerweile das Luxusproblem haben, uns eine Gespensterdebatte über die richtige Netflix-Serie gegen die "Quarantäne-Langeweile" (die zu verspüren auch ein Privileg einiger weniger, dafür umso lauterer Zeitgenossen ist), das Buchlesen auf Parkbänken und generell die Frage, ob das Recht die eigenen Verwandten zu infizieren nicht irgendwie doch über dem Seuchenschutz der Bevölkerung steht, zu leisten. Diese Gespensterdebatte offenbart ein gewaltiges Problem mit der Verantwortung in Deutschland.
Dieses Problem lässt sich wie folgt beschreiben. Der bisher milde Verlauf von Covid-19 hierzulande gibt nicht nur allen möglichen Verschwörungstheoretikern Futter, die mit derselben basalen Leichtigkeit den Begriff von "Hysterie" im Munde führen, den (oftmals identische) Personen für die Klimawandelleugnung nutzen. Die üblichen Verdächtigen der großen Durchschauer sind hier zu finden. Hauptsache dagegen, egal um was es geht, mit maximaler zerstörerischer Kraft, das ist Wesenskern der Verharmloser. Sie sind beherrscht von einem grenzenlosen Vertrauen in die eigene Durchblickskraft, die wesentlich weiter reicht als alles weltweite kombinierte Expertenwissen.
Doch diese Leute sind glücklicherweise eine einflusslose Minderheit. Wesentlich problematischer ist die Gruppe derer, die ich die Wohlstandsverwahrlosten nennen will. Sie haben aus ihrer eigenen komfortablen Position eine solche Anspruchshaltung entwickelt, dass sie gar nicht mehr bemerken, wie sehr sie in einer Blase sitzen, abgeschirmt von den Problemen, mit denen all diejenigen sich abmühen müssen, die tatsächlich Verantwortung tragen - ob im Großen in Ministerium und Kanzleramt oder im Kleinen für Angehörige, die sich selbst nicht schützen können. Diese Gruppe ist bedauerlicherweise so groß, dass sie sowohl elektoral als auch wirtschaftlich eine Zielgruppe darstellt.
Mit zielsicherem Gespür für den Unmut der Massen hat sich natürlich die BILD auf das Thema gestürzt und fragt in immer neuen, großgeletterten Überschriften mit falscher Anteilnahme nach der wachsenden Unzufriedenheit mit der Quarantäne, die selbst durch ihr penetrantes Bohren mit schafft. Auf höherem Niveau spielt das Schwesterblatt Die Welt dieses Spiel mit, unabhängig von den internen Maßgaben Springers ist auch die FAZ wie immer bereit, in das konservative Horn zu blasen. Demgegenüber stehen ZEIT und Spiegel als liberale Leuchttürme und bringen mit den so oft verachteten Öffentlich-Rechtlichen Medien Licht ins Dunkel.
Ich möchte hier vor allem Christian Drosten lobend hervorheben, der es in diesen Zeiten schafft, nicht nur der Versuchung zu widerstehen, seine plötzliche Berühmtheit in bare Münze zu verwandeln, durch die Talkshows zu tingeln, möglichst steile Thesen rauszuhauen und einen Bestseller zu schreiben, sondern der wissenschaftliche Standards hochhält, unermüdlich zu erklären versucht und sich dabei mit verantwortungslosen Redaktionen wie jenen im Stern auseinandersetzen muss, die ein Interview mit ihm mit Falschaussagen anteasern und dann hinter die Paywall packen. Genauso hervorgehoben seien all jene Verantwortungstragenden, die ihr Bestes geben, und jene OppositionspolitikerInnen, die wissen, dass Schweigen manchmal auch in der Politik Gold ist.
Auf der anderen Seite haben einige Politiker zielsicher erkannt, dass diese Stimmung aktuell von verantwortungsbewussten PolitikerInnen nicht bedient werden kann und eine attraktive Lücke gesehen. Weitgehend erfolglos bleibt glücklicherweise bislang die AfD, die problemlos von der großen Merkel-Verschwörung zur "Umvolkung" der deutschen Gesellschaft zur Klimawandelleugnung während der Fridays-For-Future-Debatte und nun zur Corona-Verantwortungslosigkeit wechseln konnte. Diese Flexibilität überrascht nicht, ist sie doch im Kern eine Partei des Widerspruchs, des Hasses, des Aufbegehrens und Protests geblieben und passt sich an das an, was eben im Moment in der Lage ist, Widerspruch, Hass, Protest und Aufbegehren hervorzurufen. Aber ihr Weg zurück in den einstelligen Prozentbereich angesichts einer weitgehend kompetenten Krisenpolitik der demokratischen Parteien ist sehr begrüßenswert.
Jedoch haben andere, die sich für die absolute Spitze bürgerlicher Respektabilität halten, ebenfalls den Versuch unternommen, Kasse mit diesen Stimmungen zu machen. Sowohl Christian Lindner als auch der zur Irrelevanz verdammte Friedrich Merz versuchen sich seit mindestens zwei Wochen daran. Ihre Plastikphrasen sind an Banalität kaum zu überbieten und schaffen nichts als ein Hintergrundrauschen ominösen Raunens.
Gravitätisch gibt etwa ein Friedrich Merz zu Protokoll, dass in so einer Krise abgewogen werden müsse zwischen Grundrechten auf der einen und Leib und Leben der anderen. Ach was, Herr Merz. Unausgesprochen lässt der nordrheinwestfälische Westentaschenvorsitzende, dass die aktuelle Regierung das nicht tue. Da braucht es schon echte Männer, die genauso plumpe Statements auf Bierdeckel bekommen wie Steuerkonzepte.
Christian Lindner gleichzeitig weiß auch, dass der Ausnahmezustand "keinen Tag länger dauern darf als nötig", als ob irgendjemand in dieser Republik anderer Meinung wäre, selbstverständlich ohne dieser gewaltigen Erkenntnis in irgendeiner Weise Konkretes beizugeben oder auch nur zu identifizieren, wo das seiner Meinung nach in Frage gestellt werde. Er redet von "Maulkörben" und "Regieanweisungen" durch die Regierung, als hätte er sein AfD-Beitrittsformular bereits unterzeichnet.
Leider muss zu dieser Liste mittlerweile auch Armin Laschet gezählt werden, der wohl beschlossen hat, dass seine Vorreiterstellung im Kampf um den CDU-Vorsitz am besten dadurch auszubauen sei, dass er die Ressentiments bedient. Wo Jens Spahn entweder aus eigenem Verantwortungsbewusstsein oder von der Erwachsenenriege um ihn herum eingehegt wird, hat Landesfürst Laschet keine solchen Hemmungen und verbreitet aggressiv fragwürdige Studien, die er gleich in Personalunion stellt ("unsere Studie" sagte er auf einer Pressekonferenz) und leistet gefährlichen Narrativen von scheinbaren Expertenstreits Vorschub. Gleichzeitig poltert er, man müsse Schulen und Geschäfte wieder öffnen und droht, mit NRW voranzugehen. Verantwortungslosigkeit in Reinkultur, auch hier.
Selbst die Bischöfe machen in dem dummen Spiel mit und verkünden in einer gemeinsamen Erklärung, die Triage könne "nur Ultima Ratio" sein, als ob irgendjemand gerade auf die Idee käme, das einfach spaßeshalber einzuführen. Aber Hauptsache mal geraunt und sich selbst als unerbittlicher Kämpfer für Freiheit und Moral inszeniert, und Scheiß auf die Folgen und die Unsicherheit, die man damit schürt. Verantwortungslosigkeit aller Orten.
So gut sich Schlagzeilen, die mit Unschuldsmiene nach der wachsenden und selbst geschaffenen Unzufriedenheit mit der Quarantänesituation fragen, sicher auch verkaufen, so verantwortungslos ist es, sie in die Welt zu setzen. Sie werden aus einer Situation heraus geschrieben, in der die deutsche Situation besser ist als im Großteil der Rest der Welt. Eine Oase der Ruhe und Zufriedenheit, quasi. Wohlstandsverwahrlosung eben. Die Situation ist aber besser, WEIL die Quarantänemaßnahmen ergriffen wurden. Die Schlagzeilen der entsprechenden Zeitungen und die Äußerungen der betroffenen Politiker aber sind ungefähr auf dem Niveau meiner kleinen Kinder, die echauffiert gegen die Begrenzungen aufbegehren, weil sie ihren liebgewonnenen Tagesablauf stören. Und das ist es, was so absolut verantwortungslos ist.
Mir geht es hier dezidiert nicht um die großen Fragen. Es ist etwa eine absolut berechtigte Diskussion, welche riesigen wirtschaftlichen Verwerfungen gerade entstehen, dass tausende von Betrieben pleite gehen werden, zehn-, hunderttausende von Existenzen vernichtet. Gleichzeitig ist es auch gut die Regierung verantwortlich dafür zu halten, sämtliche Notstandsbefugnisse ausdrücklich zeitbegrenzt wirken zu lassen und ein wachsames Auge darauf zu haben, dass hier nicht Präzedenzfälle für normale Zeiten gesetzt werden.
Umgekehrt aber braucht es das Eingeständnis, dass wir gerade nicht in normalen Zeiten leben. Und das lassen die Wohlstandsverwahrlosten schmerzlich vermissen. Für sie wird in Agonie die Frage diskutiert, warum man Ostern nicht im Familienkreis feiern können darf, warum diese oder jene Einschränkung des alltäglichen Lebens wirklich sein muss und so weiter. Sinnfällig dafür war die schildbürgerhafte Debatte in Bayern darüber, ob man auf einer Parkbank ein Buch lesen darf. Glücklich, wer solche Probleme hat und das als Kernfrage unserer Tage ansehen kann!
Und wo sind all diejenigen, die angesichts brennender Flüchtlingsheime noch mit salbungsvoller Stimme verkündeten, man müsse die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen, die sich da eben von einer Welle braunhäutiger Menschen in ihrem Lebensstil bedroht sehen? Jetzt, wo dieselben Menschen Angst vor einer schwerwiegenden, möglicherweise tödlichen Virusinfektion haben, schwallen dieselben Journalisten von einer "merkwürdigen Untertänigkeit", sie, die vorher noch in jede Bresche gesprungen sind, um Nazis vom Rassismusvorwurf freizusprechen und Molotowcocktailwerfer in Schutz zu nehmen.
Es zeigt deutlich, dass es von Anfang an nur um die eigenen Überzeugungen ging. Denn die Wohlstandsverwahrlosten haben keinerlei Probleme, Armen und Südeuropäern alles Mögliche an härtesten Restriktionen aufzuerlegen. Kürzungsprogramme dass es kracht, Renten- und Gehaltssenkungen um mehr als ein Drittel, Arbeitszwang bei Niedriglöhnen, das ist alles in Ordnung, aber wenn es darum geht, dass man selbst gezwungen ist, zeitlich begrenzt (!) einige Unannehmlichkeiten hinzunehmen und in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein, dann wird der Aufstand geprobt.
Das ist es, was mich ankotzt. Anstatt die viel beschworene persönliche Verantwortung ernst zu nehmen und zu akzeptieren, dass im Interesse der Allgemeinheit Einschränkungen hingenommen werden müssen, wird gerade der Erfolg der Verantwortungsträger dazu hergenommen, sich endlos über diese auszulassen und zu meckern wie Kinder, die beim Verwandtschaftsbesuch gebeten werden für zehn Minuten das Smartphone aus der Hand zu legen. Es ist völlige Wohlstandsverwahrlosung, es ist verantwortungslos, und es kotzt mich an.

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