4. Juli, USA. In den Vorgärten werden Nationalflaggen gehisst, die Häuser sind mit rot-weiß-blauen Streifen dekoriert, in den Straßen singen Kinder die amerikanische Nationalhymne. In New York und Washington D.C. finden patriotische Paraden statt, und in Texas trifft man sich zum alljährlichen nationalen Rodeo-Wettbewerb.
Viele Familien, Freunde und Nachbarn treffen sich zum Barbecue oder zum Picknick. Ebenfalls beliebt sind Potluck-Parties, bei denen jeder Besucher etwas zum Buffet beisteuert.
Zu essen gibt es typisch amerikanische Gerichte wie Cole Slaw, Hot Dogs, Maiskolben, Kartoffelsalat oder in den Landesfarben verzierte Desserts – wie jedes Jahr. Schön patriotisch, betont amerikanisch und tonnenweise fettiges Essen.
Eine solche Stimmung entfacht sich nur an einem Tag im Jahr. Dem Nationalfeiertag. Der Tag, an dem sich ein Volk einst von der britischen Kolonialmacht lossagte und dessen Gründerväter die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. Eine Nation im narzisstischen Rauschzustand.
Schnitt. 3. Oktober, Deutschland. Wie jedes Jahr finden die „zentralen Feierlichkeiten“ in dem Bundesland statt, dass den Vorsitz des Bundesrates innehat. Dieses Jahr ist Hessen an der Reihe. Der Bundespräsident und die Kanzlerin kommen, Cro auch.
Es gibt eine Licht- und Bühnenshow. 25 Brücken aus Licht werden über den Fluss geschlagen mit der Frankfurter Skyline im Hintergrund. Dazu wird die Europahymne erklingen, ein Chor wird singen und 16 Jet-Skier werden mit Wasserski-Läufern über den Main fahren und die Flaggen der Bundesländer schwenken.
Achja, Juncker kommt ebenfalls. Und Gorbatschow und Kohl wohl auch. Ein paar Linksautonome planen eine Gegendemo; „Nie wieder Deutschland“ ist das Motto. Wie jedes Jahr. Begleitet wird der „Tag der deutschen Einheit“ von ellenlangen Essays, Reportagen und Historikermeinungen in den großen deutschen Gazetten.
Ein Elitendialog. Natürlich. Auch hierzulande ist Nationalfeiertag. Für manche. Für die meisten ist einfach nur Feiertag, der unglücklicherweise auf einen Samstag fällt. So ein Pech aber auch.
Zu feiern gäbe es immerhin einiges:
Eine vom Krieg geteilte Nation fand in Frieden und Freiheit zusammen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung wurde – nicht ganz auf den Tag genau – von Diktatur und Unterdrückung befreit. Unsere Nation wurde in die Souveränität entlassen und kehrte wohl vollends in die europäische Völkerfamilie zurück.
Achja, und der Ost-West Konflikt wurde beendet bzw. stand kurz davor. Klingt nach einem Tag an dem man Deutschlandfahnen hisst, die Nationalhymne singt, das Gemeingefühl spürt. Wer der am 3. Oktober schon mal durch Deutschland gereist ist, dem ist Dergleichen wohl aber nur selten begegnet.
Es ist kein Geheimnis, dass die Deutschen ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Nation haben. Einen Patrioten nennen sich die Wenigsten. Und die die es tun, zünden meist in ihrer Freizeit Flüchtlingsheime an. „Stolz auf Deutschland“ zu sein gleicht auf der linken Seite des politischen Spektrums dem Offenbarungseid eines Idioten.
Auf der rechten Seite ist ein solcher Satz ein mehr erzwungenes Statement, als Ausdruck echter Gefühle. Freilich gibt es dafür einen Grund. Es ist noch nicht so lange her, da sang man in Frankfurt nicht „Easy“, sondern das Horst-Wessel Lied und man klatschte nicht zum Takt, sondern hob seinen rechten Arm um sogleich „Heil Hitler“ zu brüllen.
Es ist verständlich, dass sich dasselbe Land nicht sofort mit sonderlich viel Nationalstolz präsentierte. Vermutlich war es auch besser so.
Den Gegensatz bieten Amerikaner, Franzosen, Briten und wohl viele andere Nationen auch. Für sie ist der Nationalfeiertag nicht nur Ausdruck staatlicher Routine, sondern ein Akt der gemeinsamen Selbstvergewisserung.
„Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Wie schaffen wir das?“ Diese Fragen gehören ebenso zu jenem kollektiven Freudenfest wie Landesflagge und Marmorkuchen. Der Nationalstaat ist Identitätsstiftend. Er gibt Rückhalt und leistet Hilfe. Genauso oft macht er wohl auch Probleme. Doch das sollte an diesem Tag nicht im Vordergrund stehen.
Für die Osteuropäer zum Beispiel, die Polen, Ungarn und Tschechen, war die Stunde des starken und betonten Nationalstaats nicht das Tor zur Barbarei – wie für die Deutschen im dunkelsten Teil ihrer Geschichte – sondern das Tor zur Freiheit, als sie in den späten 80ern und frühen 90ern dem sowjetischen Imperium entkamen.
Vielleicht verstehen viele Deutsche auch deswegen nicht, warum sich nicht nur Viktor Orbán so vehement gegen eine EU-Flüchtlingsquote wehrt, sondern mit ihm auch das Gros seiner Landsleute.
Ist es schlimm, dass man in Deutschland kaum von einem „echten“ Nationalfeiertag sprechen kann? Sollten wir losstürmen, Deutschlandflaggen kaufen und die Nationalhymne brüllend durch die Straßen laufen? Ich für meinen Teil lasse das lieber bleiben – im Oktober ist es sowieso immer so kalt.
Sollten statt einer Bühnenperformance von Cro und Sarah Connor, Bundeswehrsoldaten in Stechschritt über den Alexanderplatz laufen? Ich glaube, auch das sollten wir sein lassen.
Und dennoch kann es hilfreich sein, gerade in dieser Zeit, den Staatsakt der deutschen Einheit, zum Fest nationalen Ausmaßes zu machen. Wir sind längst zum Einwanderungsland geworden. Viele Religionen, Ethnien und Kulturen leben hier.
Wir werden im 21. Jahrhundert einige Diskussionen über unser außenpolitisches Gewicht führen müssen. Welche Rolle kommt uns in der Welt zuteil? Welche wollen wir überhaupt? Es gibt viele Konflikte, national wie international und wohl ebenso viele Krisen, die auf uns zukommen. Gerade die Flüchtlingskrise zeigt doch, dass dafür jeder Einzelne von gebraucht wird.
Um das alles gemeinsam meistern zu können, braucht es einen patriotischen Minimalkonsens, ein Mindestmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich möchte bezweifeln, dass wir das bereits besitzen.