Von Stefan Sasse
Niedersachsen hat gewählt, und die Überraschung war groß: fast 10% für die FDP! Damit hatte wohl kaum jemand gerechnet. Dann ein stundenlanges Tauziehen, wer denn nun die eine Stimme Mehrheit haben würde (Rot-Grün). Überraschend wenig Kommentare zog das schlechte Abschneiden von LINKE und Piraten auf sich, die mit 3% und 2% mehr als deutlich den Einzug in den Landtag verfehlten. Die Wahlbeteiligung war mit rund 60% nicht gerade berauschend, aber im für Landtagswahlen üblichen Rahmen. Sehen wir uns noch einmal das Ergebnis in seiner ganzen Schönheit an, bevor wir eine Detailanalyse vornehmen: CDU: 36%SPD: 32,6%FDP: 9,9%Grüne: 13,7%LINKE: 3,1%Piraten: 2,1%
Beginnen wir bei der CDU. Ihr Ergebnis ist unschön für die Niedersachsen-CDU, aber ein gutes Zeichen für die Bundes-CDU: die Partei hat, gemessen an ihrem Potenzial, klar underperformed. Die FDP hat nach Wahlanalysen massiv von Leihstimmen der Union profitiert. Taxieren wir diese auf rund 4% - den Einzug hätte die FDP vielleicht auch aus eigener Kraft geschafft - so liegt die CDU in Wahrheit bei rund 40%. Diesen Wert reißt sie seit Monaten konstant auch in Umfragen zur Bundestagswahl. Im Kanzleramt dürften da einige Korken geknallt haben, was die Enttäuschung darüber, ein wichtiges Flächenland an Rot-Grün verloren zu haben etwas relativiert. Die CDU wird nach Lage der Dinge mit Abstand die stärkste Partei im deutschen Bundestag bleiben.
Für die SPD sieht die Lage schon wesentlich düsterer aus. In Niedersachsen sind ihr die Wähler deutlich gewogener als im Bundesschnitt, und trotzdem reichte es bei weitem nicht für eine Mehrheit aus eigener Kraft; die hat das starke Abschneiden der Grünen ermöglicht. Die SPD ist gerade schnell dabei, die Schuld Peer Steinbrück zuzuschieben, aber das halte ich für Kokolores. Der Wahlkampf in Niedersachsen hatte kaum Schnittmengen mit der Bundespolitik. Für die SPD bleibt eine eigene, rot-grüne Machtperspektive im Bund vorerst reine Illusion. Die eine Stimme Mehrheit in Niedersachsen verdankt sie dem schlechten Abschneiden der LINKEn. Sofern die in den Bundestag kommt - und alles spricht derzeit dafür - wird es für Rot-Grün nicht reichen. Die CDU zu überflügeln wäre völlig illusorisch. Im Willy-Brandt-Haus kann man schon einmal die Strategie als Juniorpartner für die Große Koalition planen, nach der gerade alles aussieht.
Die FDP ist der erste interessante Faktor des Abends. Was ist da passiert? In den Umfragen lag sie beständig bei rund 3-4% und verpasste den Einzug deutlich. Offensichtlich profitierte die Partei massiv von der Zweitstimmenkampagne der Union, mit der McAllister seine Koalition zu retten hoffte. Die Rechnung ging nur halb auf: Die FDP kam zwar in den Landtag, aber die CDU selbst war zu dadurch nun zu schwach, eine Stimme fehlte. Bitter für McAllister, aber für die FDP natürlich erst einmal Grund zur Freude. Sie setzt damit ihre Serie von Triumphen in den Ländern fort. Während die Bundes-FDP immer noch um die 3%-Marke verharrt, sind die Landesverbände in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen deutlich bestätigt worden. Die Gegner der FDP sollten sich bereits jetzt mit dem Gedanken anfreunden, sie auch im nächsten Bundestag zu sehen.
Die FDP ist aber zusammen mit den Piraten die einzige Partei, bei der die Bundespolitik eine wesentliche Rolle spielte. Parteichef Rösler sah sich bereits einer Koalition der messerwetzenden Intriganten gegenüber, angeführt von Rainer Brüderle, der selbst gerne Parteichef geworden wäre. Den Plan kann er nun abhaken. Was aber ist dran an der großen Personalisierungsdebatte? War das nun eine Wahl für Rösler, gegen Brüderle, doch irgendwie gegen Rösler? Die FDP hat jedenfalls einen Kuhhandel beschlossen: Rösler bleibt Parteichef, Brüderle aber wird Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl. Glaubt jemand, dass diese Personaldebatte wesentlichen Einfluss auf das Ergebnis der FDP in Niedersachsen hatte? Ich nicht. Die Quereleien zwischen Brüderle und Rösler sind ein innerparteiliches Event. Es geht um die Macht innerhalb der Partei. Die Folgen dieses nun entschiedenen Machtkampfs werden wir an der Bundestagswahlkampfsstrategie erkennen können. In Niedersachsen spielte es kaum eine Rolle und war vor allem ein medial inszeniertes Spiel.
Derzeit ist die FDP daher vor allem eine leere Hülle, ein rein taktisches Vehikel. Sie konnte in der Koalition seit 2009 praktisch kein einziges ihrer Vorhaben umsetzen. Sie setzt keine eigenen Themen und kann sich allenfalls dadurch profilieren, dass sie Vorhaben der CDU blockiert oder ein Eingehen der Christdemokraten auf die Opposition erschwert. Eigenständige Themen setzt die Partei nicht. In den Ländern versucht sie sich noch als Mehrheitsbeschaffer der Union, eine Rolle, die ihr im Bundestag absehbar nicht gelingen wird.
Die Grünen dagegen dürfen sich wie die CDU zu den Gewinnern zählen. Sie bestätigten erneut ihren seit 2011 andauernden Höhenflug. Mit ihnen muss man auch in Zukunft als Partei im zweistelligen Prozentbereich rechnen. Es scheint, als hätte die Partei ein festes Milieu gefunden, das vor allem in den Städten lebt. Es ist vor allem die Schicht, die die CDU nicht zu erreichen in der Lage ist und die trotzdem irgendwie "bürgerlich" ist. Diese komplementäre Deckung der Wählerschichten wird Schwarz-Grün nach 2013 eine zunehmend attraktivere Option werden lassen, ganz besonders, wenn eine Große Koalition kommt und die Grünen in der Opposition landen, von wo aus sie beiden Regierungsparteien Paroli bieten müssen und keine deutliche Präferenz mehr erkennbar sein wird. Eine Oppositionslegislatur 2013-2017 dürfte für Freunde von Schwarz-Grün genau das sein, was zum Erreichen dieses Ziels noch fehlt.
Der Erfolg der Grünen ging klar zulasten zweier weiterer Parteien: der Piraten und der LINKEn. Die LINKE hatte keinen messbaren Erfolg mit ihrer Strategie, Sahra Wagenknecht zur Spitzenkandidatin zu machen. Die Partei leidet insgesamt deutlich daran, medial nicht stattzufinden. Die aktuell auf der Agenda stehenden Themen laufen überhaupt nicht in ihr Spektrum; die Sozialsysteme sind gerade nicht in der Debatte. Schwarz-Gelb bietet hier kaum Angriffsfläche, denn die Koalition hat im Bund weniger "Reformen" vorgenommen als Rot-Grün und Schwarz-Grün. Offensichtlich kann die LINKE gegen eine regierende SPD leichter mobilisieren als gegen eine regierende CDU, was tief blicken lässt. Wenn die SPD diese Lektion lernt, steht der LINKEn ein schwerer Bundestagswahlkampf bevor. Zwar wird die LINKE wieder von einer SPD-Regierungsbeteiligung im Bund profitieren, aber das ist auf Dauer keine Perspektive.
Bleiben die Piraten. Sie sind in den Umfragen zur Bundestagswahl seit Monaten auf Talfahrt, und ich kann mich an keine Niedersachsenprognose erinnern, die sie überhaupt drin gesehen hätte. Die jetztigen Vorwürfe in Richtung Schlömer/Nerz, dass deren neue Strategie verantwortlich sei (die Basis etwas zu entmachten) sind Unfug. Auf die niedersächsischen Umfragen hatten sie keinerlei Auswirkungen. Tatsächlich dürften für die Schwäche der Piraten gerade drei Faktoren ausschlaggebend sein: die Koalition der Protestwähler, die sie 2012 auf einen demoskopischen Höhenflug getragen hatte, ist zerbrochen. Die programmatischen Festlegungen der letzten Parteitage dürften dazu beigetraten haben, viele Protestwähler wieder abzubringen, ebenso der Erfolg bei den vorhergehenden Landtagswahlen, der sie zwangsläufig abschrecken muss und so paradoxerweise zum Nachteil der Piraten gerät. Der zweite Faktor wird von Franz Walter schön im taz-Interview erklärt: die Piraten wollen derzeit eine so radikale Änderung der politischen Strukturen, dass es eigentlich wenig Sinn macht sie überhaupt ins Parlament zu wählen. Sie gebärden sich wie eine außerparlamentarische Protestbewegung. Das ist eine valide Strategie für den CCC; die Piraten werden andere Strategien benötigen. Denn, und das ist der dritte Faktor, sie besitzen (noch) keine verlässliche Stammwählerbasis oder auch nur eine Art Wählerkoalition, auf die sie sich stützen können. Die Protestwähler sind kein tragfähiges Fundament (sie haben bereits die LINKE hoch fliegen und wieder stürzen lassen), und viel Potenzial wird aktuell von den Grünen aufgesaugt. Hier steht den Piraten noch einiges an Arbeit bevor, wenn sie in den Bundestag einziehen wollen.