Ein Zug, eine Welt, eine Revolution - "Snowpiercer"!


©Ascot Elite


Was wurde nicht alles im Vorfeld über „Snowpiercer“ geredet. Eine in Südkorea produzierte Comicadaption aus Frankreich mit englischsprachigen Darstellern und dazu gedreht in Tschechien. Internationaler geht es wohl kaum mehr und es ist bemerkenswert, dass dieses ehrgeizige Projekt überhaupt auf der großen Leinwand zu sehen ist. Umso schöner für die Kinolandschaft, die solch illustren Filme dringend benötigt um vom Einheitsbrei eine Pause zu bieten. 
Entstanden ist die Grundgeschichte in den 80er Jahren. Die Comickünstler Jacques Lob und Jean-Marc Rochette entwarfen in den 80er Jahren eine Dystopie, in der die Menschheit die Erde zugrunde gerichtet hat. Um dem Klimawandel beizukommen, versuchte man mit chemischen Stoffen die Hitze künstlich zu regulieren. Die Folge war ein weltweiter Blizzard, den so gut wie niemand überlebte. Einzig und allein auf dem Snowpiercer, ein ewig im Kreis fahrender Zug, befindet sich ein kleiner Rest Menschen, die dem ewigen Winter trotzen. Dort hat sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gebildet. Hinten befinden sich die Armen, die von den Oberen in der Spitze drangsaliert und ausgebeutet werden. Curtis Everett (Chris Evans) erträgt diese Zustände nicht mehr und ruft zum Aufstand, der vielen das Leben kosten wird. 
Der Comic ist natürlich ein Kind seiner Zeit. Damals war die Gesellschaft geprägt von Misstrauen seitens der Regierung und die Ökowelle machte in keinem Land halt. Anti-Atomkraft, nachhaltigeres Denken – all das fließt ein wenig in diese düstere Version einer möglichen Zukunft mit ein. Der südkoreanische Regisseur Joon-ho Bong adaptiert diese Grundgedanken und überträgt sie mehr oder minder frei auf die heutige Zeit. Für ein bescheidenes Budget von 40 Millionen Dollar bringt uns der Hitregisseur die Enge des Zuges bedeutend näher. In den hinteren Abteilen vegetieren die Überlebenden vor sich hin, starren ins Leere, sind über und über mit Dreck beschmiert. Hilflos warten sie auf weitere Schikanen der Obrigkeit, die nicht lange auf sich warten lassen. Sobald die Revolution jedoch anbricht, kommt das Publikum aus dem Staunen nicht mehr heraus. Jedes Abteil birgt neue „Wunder“, die dermaßen originell und vielseitig sind, dass der Zuschauer nie weiß, was ihn erwartet. Ob eine voll ausgestattete Sushi-Bar in der Apokalypse oder ein perfekt angelegtes Unterwasser-Biotop. In der Welt des Joon-ho Bong ist alles möglich. Entgegen des Marketings und der Trailer entpuppt sich „Snowpiercer“ mit zunehmender Laufzeit auch noch als Satire. Der ernste Grundton vermischt sich allzu plötzlich mit absurder Komik, die herrlich übertrieben und auch irritierend in Szene gesetzt ist. Joon-ho Bong tobt sich immer wieder aus um das Publikum vor den Kopf zu stoßen und sich jeglicher Erwartungshaltung zu widersetzen. Seinen satirischen Höhepunkt erreicht „Snowpiercer“ etwa, wenn ein Klassenzimmer erreicht wird und die Lehrerin ihren Schülern eine Gehirnwäsche verpasst. Das sind Szenen, die nicht einmal Terry Gilliam („Brazil“) besser hinbekommen hätte.

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Leider übertreibt es der südkoreanische Virtuose mit abstrakten Dialogen zum Ende hin ein wenig, was den eigentlich ergreifenden Geschehnissen den Wind aus den Segeln nimmt. Auch schleichen sich hier und da ein paar Logikfehler ein, die der Geschichte schaden. Allerdings sind damit nicht Aspekte der Marke „Wie kann dieser Zug nach all den Jahren auf nicht gewarteten Gleisen fahren?“ oder „Wie wird dieser Zug eigentlich angetrieben?“ gemeint. „Snowpiercer“ schert sich nicht um solche unnötigen Erklärungen und das muss er auch nicht. Der Zug stellt lediglich ein Perpetuum Mobile dar. Das heißt, er ist eine hypothetische Konstruktion, die nach einmaligem Starten ewig weiter läuft. Generell ist der Zug eher als Metapher auf den kläglichen Rest Menschheit anzusehen. Ziellos fahren sie im Kreis, ohne Fortschritt oder dem Versuch etwas Neues zu wagen. Um den Ingenieur des Zuges hat sich in 17 Jahren ein Kult entwickelt, der dem um Nordkoreas Führer Kim Jong-Un nicht unähnlich scheint. Alles geschieht zum Wohl der Maschine und dessen Schöpfer. Hier beweist sich endlich wieder, dass auch vordergründige Actionfilme Tiefe besitzen und zum Nachdenken anregen können. Die Situation in dem Zug gleicht in nur mehr als einem Aspekt dem Nachbarland des Regisseurs, Drehbuchautoren und Produzenten. Zufall? Wohl kaum. Das niedere Volk im hinteren Abteil hat keine Möglichkeit mit anderen Abteilen zu kommunizieren. Sie sind völlig auf sich allein gestellt, ihr Essen wird mittels Proteinriegel rationiert und Führer Willford kontrolliert sie durch das Militär mit harter Hand. Das gesellschaftliche System wirkt (in seinen elementaren Zügen) wie ein Zwilling der nordkoreanischen Juche-Ideologie, die einen Anführer zur Transformation der Gesellschaft als Notwendigkeit ansieht. „Snowpiercer“ ist also, mit all seinen satirischen Elementen, ein kleiner Kommentar über Tyrannei, Revolutionen und der Frage: Was dann? 
Was tun, wenn die „Bösen“ aus dem Weg geschafft sind? Wie wird die Gesellschaft wieder in sichere Bahnen gelenkt? Hier lassen sich deutliche Parallelen zum arabischen Frühling entdecken. So entfachte in Ägypten – genau wie in „Snowpiercer“ – eine Revolution, die alles besser machen sollte. Aus dem Präsidenten Mubarak wurde Mursi. Und was änderte sich? Bis heute warnen Reisegesellschaften in dieses Land einzureisen, weil die Zustände dort immer noch zu unsicher und unstabil sind. Auch Protagonist Curtis muss sich diese Frage stellen, doch drückt er sich immer wieder vor der Antwort. Allerdings scheut sich der Film nicht davor, diese mit aller Kraft zu beantworten. Konsequent zeigt er eben die Folgen einer jeden Entscheidung, so richtig oder auch falsch sie sein mag. In seiner überaus feinen Charakterisierung stellt „Snowpiercer“ verschiedenste Systeme und Möglichkeiten gegenüber, die in einem hochspannenden Dialog zwischen Curtis und Ingenieur Willford aufeinanderprallen. 
Neben den aufgeworfenen philosophischen und gesellschaftlichen Fragen funktioniert „Snowpiercer“ immer noch vorzüglich als originelles Actionstück. Die Kampfszenen sind stets überaus unterhaltsam gestaltet. Regisseur Joon-ho Bong nutzt seine Sets großzügig aus um spannendes Genre-Kino zu präsentieren, dass sich gewaschen hat. Trotzdem wird „Snowpiercer“ beim Massepublikum weitestgehend durchfallen. Joon-ho Bongs surreale Einfälle sind dermaßen weit weg vom amerikanischen Actionfilm, wie es nur irgendwie geht. Und das trotz bekannter Stars, wie Chris Evans („Captain America“), Tilda Swinton („Grand Budapest Hotel“), John Hurt (“Doctor Who – The Day of the Doctor“) und Jamie Bell („Drecksau“). Das ist für Fans natürlich eine Offenbarung, Leute die jedoch relativ unbedarft an „Snowpiercer“ herangehen, werden verschreckt das Weite suchen. Vielleicht auch ein Grund, wieso der amerikanische Produzent Harvey Weinstein eine um 20 Minuten kürzere Fassung in die amerikanischen Kinos bringen wollte, was letztendlich nicht durchgesetzt wurde. 
„Snowpiercer“ ist – trotz kleinerer Schwächen – faszinierendes und intelligentes Kino, das völlig unvorhersehbar Genres mischt und das Publikum ständig überrascht. Denn sobald sich die Tür eines Abteils öffnet, weiß auch ein kinoaffiner Zuschauer nicht, was ihn erwartet. So macht Kino Spaß und es ist nur zu hoffen, dass es mit dem schon jetzt gefestigten Erfolg von „Snowpiercer“ weitere ambitionierte Projekte auch auf die Leinwand schaffen. Auch neue Projekte des Regisseurs Joon-ho Bong („Memories of Murder“) sollten im Auge behalten werden. 

©Ascot Elite


BEWERTUNG: 09/10Titel: SnowpiercerFSK: ab 16 freigegeben
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Science Fiction Laufzeit: 122 MinutenRegisseur: Joon-ho BongDarsteller: Chris Evans, Tilda Swinton, John Hurt, Jamie Bell, Ed Harris, Octavia Spencer, Kang-ho Song, Alison Pill, Ewen Bremner

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