Mit The Purple Rose of Cairo hat Woody Allen Anfang der Achzigerjahre eine wunderschöne Liebeserklärung ans Kino gemacht – in gewohnt verrückter Manier. Ein Film, der noch heute zum Träumen und Nachdenken anregt.
Eine typische Woody-Allen-Dialogzeile, absurd und witzig zugleich. Sie ergibt sich im Lauf des Films aus dessen verrückter Grundidee: Eine Filmfigur verlässt die Leinwand und tritt in die Realität über.
Woody Allen bastelt daraus eine wunderbar luftige, tief berührende Hommage an den Zauber und die Heilkraft des Kinos. Dabei schöpft er die Grundidee aus, ohne damit auch nur einen Moment zu ermüden. Erstaunlich, was ihm da alles einfällt: Nachdem der Archäologe Tom Baxter die Leinwand verlassen hat, kann der “on screen” verbleibende Rest der Filmfiguren nicht mehr weitermachen und beginnt zu streiten; der entsprungene Archäologe reflektiert die reale Welt beständig durch die Augen der Kunstfigur, was zu absurden Dialogen von bisweilen philosophischer Tiefe führt; als er die reale Cecilia, in welche er sich verliebt hat, auf die Leinwand und ins Filmgeschehen hineinzieht, kann der Film zwar weitergehen, aber die zusätzliche Person führt zu einer gänzlich anderen Handlung; der Schauspieler Gil Shepherd, der im Film den Archäologen gibt, wird vom verunsicherten Filmproduzenten an den Ort des Geschehens geschickt und findet sich plötzlich in der Situation, mit seinem anderen “Selbst” verhandeln zu müssen.
Inmitten der Aufregung bewegt sich Cecilia wie eine Schlafwandlerin, die nicht mehr weiss, wie ihr geschieht, weil ihre Film-Träume plötzlich real geworden sind. Aber was ist schon real?
Mit traumwandlerischer Sicherheit erforscht Woody Allen in diesem Meisterwerk den schmalen Grat zwischen Schein und Sein, zwischen Alltagsflucht und Fiktion.
Wir schreiben die Dreissigerjahre – Depressionszeit. Cecilia flüchtet aus ihrem tristen Alltag mit ihrem arbeitslosen, rüpelhaften Ehemann in die bessere Welt des Kinos. Tom Baxter flüchtet aus der trüben, sich endlos wiederholenden Routine seines einen Films in die vielfältige Wunderwelt der Realität.
Im Kino – wo sonst? – treffen die beiden Flüchtlinge aufeinander, verlieben sich – und lösen damit einen Wirbel aus, der unterhaltsamer ist als jeder Film.
The Purple Rose of Cairo ist wunderbar vielschichtig und jede Schicht vermag zu begeistern. Da ist einmal die Rekonstruktion der Dreissigerjahre, die Allen und seinen Ausstattern Stuart Wurtel und Edward Pisoni verblüffend direkt und überzeugend gerät – ebenso die Rekonstruktion eines (fiktiven) Films aus den Dreissigerjahren mit all seinen Manierismen und Gepflogenheiten (The Purple Rose of Cairo ist nichts anderes als der Titel dieses Films, aus dem Baxter ausbüxt – ein doppelter Filmtitel also).
Eine weitere Schicht oder Thematik dieses Wunderwerks heisst Film im Film. Diese Thematik melkt Allen auf nahezu erschöpfende Weise (siehe oben).
Und dann gibt es noch eine versteckte Thematik, die den Film zur Wundertüte macht für Leute, die gerne analysieren, nämlich die Thematik der Dopplung, welche das Spiel mit Realität und Film beinhaltet. Der Dualismus Realität und Fiktion wird vielfach gespiegelt in immer neuen Dopplungen: Da ist einmal der doppelte Titel, der sowohl Allens Werk aus dem Jahr 1985 ziert, aber gleichzeitig auch den fiktiven Film, der darin zu sehen ist. Es gibt zwei Flüchtlinge in dem Film, jeder flüchtet in die “Realität” des jeweils anderen. Und zu guter Letzt erscheint auch noch Jeff Daniels doppelt, einmal als Schauspieler Gil Shepherd, welcher die von ihm verkörperten Figur Tom Baxter dazu bringen soll, zurück in den Film zu gehen.
Obwohl der Film in der Erläuterung klingt, als sei er kalkuliert und berechnet, wirkt er genau gegenteilig: Er ist bezaubernd und berührend. Und das ist das Wunderbare daran. The Purple Rose Of Cairo ist nicht nur eine der schönsten Liebeserklärungen an das Kino, die das Kino je hervorgebracht hat – er ist Kino in Reinkultur.
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Weitere Filmempfehlungen (sämtliche Filme sind auf DVD erhältlich, sofern nicht anders vermerkt):
To Rome With Love (2012) Nach Husbands and Wives (1992) ging es mit Woody Allen bergab. Ich schaute mir zwar noch an, was er nach seiner Trennung von Mia Farrow gedreht hatte – aber nach dem verwirrenden Deconstructing Harry (1997) verabschiedete ich mich von ihm: Ich ging in keinen seiner Filme mehr. Bis vor ein paar Tagen, als ich mit To Rome With Love doch wieder einen Versuch wagte. Und – welche Freude: Der gute, alte Woody ist wieder da (wie lange schon?)! Die liebevolle Figurenzeichnung, die ich in den letzten noch visionierten Filmen so schmerzlich vermisst hatte, die verqueren Ideen, die wunderbaren Dialoge – alles wieder da, in alter Frische!
Allens Rom-Porträt ist ein köstliches Geschichten-Quartett um einem Architekten (Alec Baldwin), der in den Gassen der ewigen Stadt ein jüngeres alter ego trifft und dadurch in seine Vergangeheit eintaucht; um ein junges Paar aus der Provinz, das von der Stadt auseinandergerissen, in haarsträubende Liebeswirren gestürzt und neu wieder zusammengefügt wird,; um einen Bestattungsunternehmer, der unter der Dusche zum Weltklassetenor wird (gespielt wird er vom italienischen Tenor Fabio Armiliato) und um den kleinen Büroangestellten Leopoldo Pisanello (Roberto Benigni), der über Nacht zum gefeierten Medienstar wird. Wie in seinen Meisterwerken (s. oben) lässt Allen hier Absurdes alltäglich erscheinen und die Liebe zu seinen Figuren spürbar werden. Und nun, das habe ich mir fest vorgenommen, wird nachgeholt, was ich aus Allens Werk zwischen 1998 und 2011 verpasst habe! Und Altes wiedergeschaut. Schliesslich gehörte der Kerl mal zu meinen Lieblingsregisseuren!
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The Ghost Writer (Der Ghostwriter – 2010) Roman Polanski spannt mit Erfolgsautor Robert Harris zusammen und verfilmt dessen Bestseller The Ghost - das Drehbuch schrieben Harris und Polanski zusammen. Da haben sich zwei vom gleichen Schlag gefunden, entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Film.
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Me And Orson Welles (Ich & Orson Welles – 2008) Richard Linklater, bekannt für seine “Before…”-Trilogie, unternimmt hier einen Trip in die Dreissigerjahre und unterlegt diesen mit alten Jazz-Aufnahmen. Man fühlt sich auf der Bild- und Tonebene immer wieder an Woody Allens Meisterwerk The Purple Rose Of Cairo (s.o.) erinnert. Doch Me And Orson Welles vermag trotz interessanter Thematik, einem hervorragenden Schauspielerensemble und einem tollen Drehbuch nicht wirklich zu überzeugen, denn es gibt einen ganz erheblichen Störfaktor: Zac Efron! Er passt weder in seine Rolle noch ins Ensemble noch in die Dreissigerjahre. Mit anderen Worten: Er wirkt in diesem Film wie ein Fremdkörper. Und das ist fatal, denn er hat die Hauptrolle inne. Selten habe ich einen Film gesehen, dessen guter Eindruck von einer Person derart getrübt wurde!
Der Film basiert auf Orson Welles legendärer Bühneninszenierung von Shakespeares Julius Cäsar und behandelt das Thema Genie, Despotismus, künstlerische Eigenständigkeit und Mittelmässigkeit auf spannende und anregende Weise. Teenie-Star Efron wurde wohl vor allem deshalb engagiert, weil die Produzenten einen Flop befürchteten – obwohl er schauspielerisch keinem seiner mitwirkenden Kollegen das Wasser auch nur annähernd reichen kann. Schade – der Film ist immer hin noch gut, anregend, schön anzusehen. Aber er könnte mehr sein!
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Les Misérables (2012) Autsch! Tom Hoopers Musical-Verfilmung schmerzt. Daran ist der Regisseur Schuld. Schon in The King’s Speech (2010) hat mich seine Regieführung partiell genervt, hier macht er mich rasend! Unmotivierte Kamerafahrten (ständig rast die Kamera gen Himmel), abrupte, zum Teil völlig unmotivierte Schnitte und mangelnde Schauspielerführung sind das eine. Was aber noch viel schwerer wiegt, sind schnittlos abgefilmte Gesangszenen, welche in einigen Fällen zur Peinlichkeit geraten.
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