Joachim Gauck versteht unter Sozialstaat nur Transferleistungen, meint Albrecht Müller in seiner Schrift zum Bundespräsidenten. Neulich präsentierte er die Gedanken einer seiner Leserinnen; die meinte, nicht nur Gauck verorte den Sozialstaat als reine Transferleistungseinrichtung, weswegen es vielleicht wichtig und hilfreich wäre, dem Sozialstaatsbegriff eine aufklärende Schrift zu widmen. So weit soll an dieser Stelle nicht gegangen werden - keine ganze Schrift, aber einige Gedankensplitter sollten schon sein, denn der Sozialstaat ist wahrhaft mehr als nur eingereichte Einzugsermächtigung und Geldüberweisung. Er ist...
... makroökonomisches Werkzeug.
Heute hat man immer wieder den Eindruck, die Eliten kommen dem Sozialstaatsgebot nur deshalb nach, weil es das lästige Grundgesetz so vorsieht. Artikel 20 dieses Grundgesetzes, dort wo es heißt, dass die Bundesrepublik eine demokratischer und sozialer Bundesstaat sei, zählt für sie zweifelsohne zu den Nachteilen des Grundgesetzes, weil Demokratie und Soziales Geld kostet. Das ist aber nur eine eindimensionale Schau auf den Sozialstaat. Denn er ist nicht weniger als eine Art Sicherheit für die Wirtschaft.
Es ist weitestgehend dem Sozialstaat zu verdanken, dass in Not geratene Bürger nicht als Kunden wegfallen oder als Gläubiger zum Totalausfall werden - der Sozialstaat versorgt nicht nur bedürftige Bürger, sondern auch jene Unternehmen und Banken, die einem in Bedürftigkeit fallenden Bürger anhaften. Er sorgt dafür, dass die (Finanz-)Wirtschaft nicht massenhaft Zahlungsausfälle hinnehmen und abschreiben muß. Gäbe es ihn nicht, fiele der Erwerbslose als Stromkunde, der Kranke als Abnehmer notwendiger Medikamente, der finanziell klamme, dennoch in Rechtskalamitäten verstrickte Bürger als Mandant und insbesondere als Kunde aus, weil er sein ganzes Geld, sein Existenzminimum, in den Rechtshändel steckte, statt beispielsweise in die Tilgung eines kleinen Kredites.
Der Sozialstaat ist nicht nur sozial zu denen, die unmittelbar von ihm profitieren - er ist es weitschweifig auch zu all denen, die wirtschaftliche Interessen und Rollen im Leben dieser Bedürftigen einnehmen.
... Präventivschlag gegen Kriminalisierung.
Kein Land der westlichen Hemisphäre hat ein so unzureichendes, teils gar nicht vorhandenes Sozialwesen, wie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie die Vereinigten Staaten. Kein anderes westliches Land hält mehr Menschen im Gefängnis - vor zehn Jahren saßen mehr als 0,7 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes hinter Gittern; in Deutschland waren es etwas mehr als 0,1 Prozent. Die Zahlen mögen vielleicht etwas täuschen, weil in den USA seit einigen Dekaden etwaige Null-Toleranz-Gesetze verabschiedet wurden, die direkt ins Gefängnis lotsen - dass es aber Spannungen gibt, die auf fehlende Partizipation zurückzuführen ist, scheint nicht bezweifelt werden zu können. Überhaupt ist die Affinität zwischen einer Gesellschaft, die ihre Hilfebedürftigen nicht schützt und hoher Kriminalität, keine neue Erkenntnis. Die, die im Sozialstaat nur eine Transferleistung wittern, scheinen diese Binsenerkenntnis aber vergessen zu haben.
Ohne Versorgung von Menschen, die sich selbst nicht mehr - oder temporär nicht - helfen können, wächst der Zwang, sich notfalls auch illegal über Wasser zu halten. Denn erst das Fressen, dann die Moral. Woher nehmen, wenn nicht stehlen?, ist hierzulande eine populäre Sentenz - sie trifft zu. Der Sozialstaat schützt die Hütten der Armen, damit die Paläste der Reichen nicht besetzt oder eingerissen werden, könnte man etwas pathetisch sagen. Der soziale Friede, der dem Sozialstaatsgedanken innewohnt, hemmt das Anschwellen der Kriminalitätsrate.
... Psychopharmaka und Baldriantropfen.
Man stelle sich jetzt mal jemanden vor, der in einem Land, wie jenem der begrenzten Unmöglichkeiten, keinerlei Anspruch auf Hilfe hat. Da stellten sich abends Fragen, die man in Europa zuweilen schon vergessen hat, die man aber gerade wieder lernt. Was esse ich morgen? Schlafe ich in drei Tagen noch hier? Wie geht es weiter? Was, wenn die Schmerzen größer werden, ich aber nichts dagegen nehmen kann? Einige packen an, forcieren ihre Energie, werden in vollem Bewusstsein kriminell. Andere trauen sich das nicht, fressen in sich hinein, eignen sich eine Depression an. Man könnte fragen: Was ist dir lieber: Kriminell zu sein oder depressiv? Von was eine Lebensunlust wegtherapieren lassen? Und nachher entlädt es sich, wie so oft schon in Gewalt.
Der Sozialstaat heilt natürlich nicht die Tiefphasen des Lebens, die durch ihn gebändigt werden sollen - er therapiert beispielsweise niemanden, der durch einen ärztlichen Kunstfehler Folgeschäden erlitten hat. Hat dieser jemand Geld, braucht er den Sozialstaat nicht. Hat er keines, so zahlt der Sozialstaat die rechtlichen Mittel und die medizinischen Folgekosten. Und dies zu wissen, lindert doch ungemein - es gibt wohl nicht so viele Baldriantropfen in der Apotheke zu kaufen, wie man trinken müsste, um ohne diese Gewissheit ein halbwegs menschenwürdig Leben zu führen.
... das Vermögen und die Versicherung armer Leute.
Wie erwähnt, derjenige, der vermögend ist, der braucht den Sozialstaat nicht. Leute wie Gauck sind ja gerade nicht von ihm abhängig; fallen sie, so fallen sie in die Weichheit ihrer Rücklagen oder erhalten ein Pöstchen durch Vermittlung von Bekannten, damit sie sich über Wasser halten können. Diese Weichheiten haben die meisten Bürger nicht - Rücklagen sind schnell aufgebraucht und Bekannte können als Angestellte selbst keinen Arbeitsplatz vermitteln. Eigenverantwortlichkeit, dieses Schlagwort, mit dem man den Sozialstaat immer gerne madig macht, ist etwas, was sich nur leisten kann, der den Widrigkeiten des Lebens eigene Antworten (daher: Eigenverantwortung) entgegensetzen kann. Alle anderen brauchen Garantien, Rückversicherungen - und das bietet der Sozialstaat.
Er ist das immaterielle Vermögen armer Leute - etwas, was materiell Vermögende nicht brauchen. Er ist somit auch Statthalter der Freiheit - dass an Freiheitsrechten herumgedoktort wurde, wie bei Hartz IV und der Residenzpflicht beispielsweise, ist eine andere Geschichte.
... Hüter der Demokratie.
Es ist kein Zufall, dass im Artikel 20 des Grundgesetzes das Wort "demokratisch" und "sozial" in einem Atemzug genannt wird. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Würde hier nur stehen, es sei ein sozialer Bundesstaat, so würde sich das Demokratische daraus ergeben - könnte man dort lesen, es wäre ein demokratischer Bundesstaat, ohne dass das Soziale erwähnt würde, so dürfte an der demokratischen Konzeption gezweifelt werden. Die Demokratie braucht mündige Bürger - es reicht nicht, wenn man ihnen beibringt, dass Meinungsfreiheit demokratisch sei; es muß auch die materielle Basis für solcherlei Freiheiten vorhanden sein.
Die Demokratie ist die Idee, der Sozialstaatsgedanke ist der Gegenstand, um es mit Platons Ideenlehre zu sagen; hier Ideal, der immaterielle Anspruch - dort das Körperliche, die materielle Basis. Beides gehört zueinander, auch wenn Philosophie und Theologie uns über Jahrhunderte beibringen wollte, dass die Idee immer mehr wiegt als der Körper. Nur ein Geist denkt schwer, wenn der Körper, in dem er wohnt, nicht ausreichend ernährt wird - und ein Körper, in dem der Geist zu kurz kommt, kann laufen, aber mündig im Sinne moderner Staatstheorie kann er niemals sein. Die Symbiose ist notwendig - wie die Phänomenologie die scharfe Trennung zwischen Immaterie und Materie aufzuheben versuchte, so ist der Artikel 20 des Grundgesetzes nicht weniger, als ein phänomenologischer Ansatz zur Demokratisierung - das Soziale ist notwendig, um das Demokratische zu ermöglichen.
... Auftrag und Anspruch einer reichen Welt.
Wirtschaftlicher Fortschritt gehört nicht nur denen, die ihn sich leisten können. Die gesamte Menschheit hat einen Anspruch darauf, am Fortschreiten menschlicher Schaffens- und Denkprozesse teilhaben zu dürfen. Pharmakonzerne forschen nicht für ihren unternehmerischen Profit, auch wenn es das hiesige System genau so sieht - sie forschen, um der Menschheit ein besseres Leben zu erlauben. Und da die Menschheit nicht nur reich ist, sondern vielmehr arm, ist es notwendig, die Teilhabe am Fortschritt systematisch zu ermöglichen. Das System hierzu heißt: Sozialstaat. Das ist vereinfacht gesagt, denn der Profitismus mancher Branchen kann natürlich mit dem Sozialstaat nicht aufgehalten werden - hier empfiehlt sich flankierend eine Politik, die dem Phänomen mit rigiden Mitteln Einschränkung auferlegt.
Nun haben Sozialstaaten nicht die ganze Menschheit unter sich. Aber weil er von der Idee her versucht, die Errungenschaften der menschlichen Spezies für alle Mitglieder derselben in seinem Wirkungskreis zu sichern, wäre er nicht ein Auslaufmodell, sondern ein Konzept für den gesamten Planeten. Mehr Sozialstaat schaffen, um mehr Teilhabe am Fortschritt zu erlauben!, könnte man populistisch als Parole ausgeben.
Menschlicher Reichtum ergibt sich nicht aus den Kontoständen reicher Damen und Herren - die Menschheit ist reich, wenn ihr Reichtum auf viele Köpfe verteilt wird. Einzelexemplare mit satten Geldern sind nicht Dokument dafür, dass es der Menschheit als solcher besonders gut geht. Dann geht es nur einzelnen Menschen gut, die nicht pars pro toto gewertet werden dürfen. Der Sozialstaat ist ein Auftrag, ja ist ein Anspruch an eine Welt, die es eigentlich mehr und mehr schafft, alle zu versorgen - er ist der Versuch, dass die Verteilung dieser Güter an alle gelingt, auch wenn man selbst nicht (mehr) die finanziellen Mittel hat, um als Mensch in der Menschheit daran teilhaben zu können.
... auszubauen, nicht einzustellen.
Wer natürlich nur die Gelder sieht, der kann leicht die Einschränkung des Sozialstaates fordern. Es handelt sich aber um erheblich mehr. Die Transferleistungen, die fließen, sind nur das Mittel zum Zweck, Mittel für Sicherheit, Frieden und den eigenen Anspruch, Teilhabe am Wohlstand zu ermöglichen. Leute wie Gauck sehen nur dieses Mittel, der Zweck ist ihnen schleierhaft - sie sind so auf Zahlenwerte fixiert, dass sie die wahren Werte des Sozialstaates gar nicht mehr zu erkennen vermögen. Der Sozialstaat ist nicht nur Geldleistung, die auf Konten gutgeschrieben wird - er ist vernünftig und mitmenschlich, spricht die Ratio wie das Gemüt an; sicher ist er jedoch kein Sentimentalität, die sich die Gesellschaft leistet. So sehen das Leute wie Gauck zuweilen, wenn sie von Transferleistungen sprechen - sie sagen mit so einem Unterton, der hörbar macht, dass sie dieses Geld an die Bedürftigkeit als sentimentale Opfergabe werten. Das ist dumm und spiegelt nicht wider, was Sozialstaat wirklich ist. Und weil er so viel mehr ist, gilt es ihn nicht einzuschränken, sondern ihn zu stärken und dort auszubauen, wo immer es möglich ist.
Albrecht Müller beschloss seine Ausführungen neulich damit, der Sozialstaatlichkeit nachzusagen, sie sei "ein wunderbares Versprechen". Das kann man nur unterschreiben - es ist so viel mehr als nur Geldtransfers auf Konten. Dass Müller zudem schreibt, dass "dieses Versprechen (...) in vielfältiger Weise verletzt und aktiv gebrochen worden" ist, muß man leider auch unterschreiben. Dabei gäbe es so viele Gründe, sich gegen diese Verletzungen und Brüche aufzulehnen.
<a href="http://flattr.com/thing/839383/Ein-wunderbares-Versprechen" target="_blank"><br /><img src="http://api.flattr.com/button/flattr-badge-large.png" alt="Flattr this" title="Flattr this" border="0" /></a>